Micah Mortimer liebt Gewohnheiten, Selbstgespräche und eine ordentliche Wohnung. Jeden Tag beginnt er mit einem Morgenlauf um 7.15 Uhr, duscht, frühstückt und widmet sich anschließend geduldig den Computerproblemen seiner Kunden aus der Nachbarschaft. Nachmittags ist er im Nebenjob Hausmeister und kümmert sich um das Mietshaus, in dem er wohnt; ein paar Abende die Woche verbringt er auf der Couch seiner unkomplizierten Freundin Cass. Doch dann droht Cass die Wohnungskündigung, und sie möchte bei ihm einziehen. Und ein Teenager taucht auf, der behauptet, sein Sohn zu sein.
Man wüsste wirklich gern, was im Kopf eines Mannes wie Micah Mortimer vor sich geht. Er lebt allein, ein Einzelgänger mit unumstößlichen Gewohnheiten. Jeden Morgen um Viertel nach sieben sieht man ihn zu seiner Joggingrunde aufbrechen. Um zehn, halb elf klatscht er das TECH EREMIT-Magnetschild aufs Dach seines Kia. Er besucht die Kunden zu unterschiedlichen Zeiten, doch es vergeht kein Tag, an dem nicht mehrere seiner Dienste bedürfen. Nachmittags trifft man ihn bei der Arbeit rings um das Mietshaus an, denn im Nebenjob betätigt er sich dort als Hausmeister. Er fegt die Gehwegplatten, schüttelt die Fußmatte aus oder bespricht sich mit einem Klempner. Weil am nächsten Tag der Müll abgeholt wird, zieht er montagabends die Restmülltonnen in die schmale Durchfahrt neben dem Gebäude, mittwochabends die Wertstofftonnen. Gegen zweiundzwanzig Uhr erlischt das Licht in den drei kleinen, geduckten Fenstern hinter der Sockelbepflanzung. (Seine Wohnung liegt im Souterrain und dürfte wenig Freundliches haben.) Ein großer, knochiger Mann Anfang vierzig, mit ziemlich schlechter Körperhaltung. Sein Kopf ragt leicht nach vorn, der Rücken ist ein wenig rund. Pechschwarz das Haar, doch lässt er das Rasieren einen Tag lang bleiben, wachsen in letzter Zeit graue Stoppeln. Blaue Augen, mächtige Brauen, Hohlwangen. Ein verkniffen wirkender Mund. Immer in Jeans und, je nach Jahreszeit, in einem T-Shirt oder Sweatshirt und bei großer Kälte mit einer stellenweise abgewetzten braunen Lederjacke bekleidet. Verschrammte braune Schuhe mit abgerundeter Kappe, dürftig wie die Schuhe eines Schuljungen. Auch beim Joggen trägt er nur einfache, alte schmutzig weiße Sneakers – ohne fluoreszierende Streifen und Gelsohle oder anderem bei Läufern beliebtem Firlefanz – und eine auf Kniehöhe abgeschnittene Jeans. Er hat eine Freundin, doch offenbar leben beide eher für sich. Hin und wieder sieht man sie mit einer Takeaway- Tüte durch seine Hintertür gehen oder sie brechen am Wochenende morgens mit dem Kia auf, ohne das TECH EREMIT-Schild. Männliche Freunde scheint es nicht zu geben. Zu den Mietern ist er nett, mehr nicht. Sie begrüßen ihn, wenn sie ihm begegnen. Dann nickt er freundlich und hebt die Hand, oft ohne etwas zu sagen. Niemand weiß, ob er Verwandtschaft hat. Das Mietshaus steht in Govans. Ein kleiner, dreigeschossiger Backsteinkasten östlich der York Road im Norden Baltimores, rechts eine Forellenräucherei, links ein Secondhandladen. Hinter dem Gebäude befindet sich ein winziger Parkplatz, davor eine winzige Rasenfläche. Eine deplatziert wirkende Veranda, genau genommen nichts weiter als ein Vorplatz aus Betonplatten mit einer Hollywoodschaukel aus splittrigem Holz, in der nie ein Mensch sitzt, und einem Klingelschild mit senkrecht angeordneten Knöpfen neben der schäbigen Tür. Geht er jemals in sich und denkt über sein Leben nach, über den Sinn, den Witz des Ganzen? Bedrückt es ihn, dass er wahrscheinlich die nächsten dreißig, vierzig Jahre so leben wird? Keiner weiß es. Und so gut wie sicher hat ihm diese Fragen noch nie jemand gestellt. An einem Montag Ende Oktober saß er noch beim Frühstück, als der erste Anruf kam. Normalerweise verlief sein Vormittag folgendermaßen: joggen, duschen, frühstücken, ein bisschen aufräumen. Er hasste es, wenn der übliche Ablauf eine Störung erfuhr. Er zog das Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick auf das Display. EMILY PRESCOTT. Eine alte Dame, mit der er schon so oft zu tun gehabt hatte, dass sie in seinen Kontakten gespeichert war. Alte Damen hatten die einfachsten Reparaturen, aber die quengeligsten Fragen. Sie wollten immer den Grund erfahren. »Warum ist das passiert?«, hieß es dann. »Als ich gestern Abend ins Bett ging, war mit dem Computer noch alles in Ordnung, und heute Morgen ist er komplett hinüber, obwohl ich ihn gar nicht angefasst habe. Ich lag ja die ganze Zeit im Bett und habe geschlafen!« »Na ja, egal. Jetzt ist er jedenfalls repariert«, sagte er dann. »Aber warum musste er repariert werden? Wodurch ist er kaputtgegangen?« »Diese Frage sollte man im Zusammenhang mit einem Computer nie stellen.« »Warum nicht?« Andererseits lebte er von den alten Damen, und diese hier wohnte noch dazu ganz in der Nähe, in Homeland. Er drückte auf Annehmen und meldete sich mit »Tech-Eremit«. »Mr Mortimer?« »Ja.« »Hier spricht Emily Prescott, erinnern Sie sich an mich? Es handelt sich um einen schlimmen Notfall.« »Was ist los?« »Mein Computer hat den Geist aufgegeben! Er streikt einfach! Er geht auf keine Website mehr, obwohl das WLAN-Signal noch da ist!« »Haben Sie es schon mit einem Reboot versucht?« »Was ist das?« »Das Gerät aus- und wieder einschalten, so wie ich es Ihnen gezeigt habe.« »Ach so, ja, ja. ›Ihm eine kleine Auszeit gönnen‹, nenne ich das immer.« Sie lachte fahrig auf. »Ja, habe ich versucht, aber es hat nicht geholfen.« »Okay. Ich könnte gegen elf kommen.« »Gegen elf Uhr?« »Genau.« »Aber meine Enkelin hat am Mittwoch Geburtstag, und ich muss das Geschenk rechtzeitig bestellen, damit genug Zeit für die Gratis-Standardlieferung bleibt.« Er schwieg. »Tja also«, sagte sie und seufzte. »Gut, dann um elf. Ich warte. Wissen Sie noch, wo ich wohne?« »Ja, weiß ich noch.« Er legte auf und biss in seinen Toast. Seine Wohnung war größer, als man es bei einem im Souterrain gelegenen Apartment erwartet hätte. Neben einem langen, offenen Raum, der als Wohnzimmer und Küche diente, gab es zwei weitere Zimmer und ein Bad. Die Decke hatte eine annehmbare Höhe, und der Boden bestand aus gar nicht einmal unansehnlichen zart gestreiften Vinylfliesen in Elfenbeinweiß. Vor der Couch lag ein kleiner beiger Teppich. Die schmalen, kurz unterhalb der Decke befindlichen Fenster boten zwar kaum Ausblick, aber ob die Sonne schien, so wie heute, ließ sich immer erkennen, und jetzt, in der Zeit des verfärbten Laubs, waren rings um die Wurzeln der Azaleensträucher ein paar vertrocknete Blätter zu sehen. Vielleicht würde er ihnen später mit dem Rechen zu Leibe rücken. Er leerte die Kaffeetasse, schob den Stuhl zurück, stand auf und trug das Geschirr zur Spüle. Er hatte ein ganz bestimmtes System: Während Teller, Tasse und Besteck einweichten, wischte er Tisch und Arbeitsfläche ab, stellte die Butter in den Kühlschrank und säuberte mit dem Stielstaubsauger den Bereich unter dem Stuhl von etwaigen herabgefallenen Krümeln. Der eigentliche Staubsaugtag war zwar Freitag, doch er blieb gern auch zwischendurch am Ball. Montag war der Bodenwischtag für Küche und Bad. »Das gefurrrchtete Feudeln«, murmelte er, während er einen Eimer mit heißem Wasser volllaufen ließ. Bei der Arbeit führte er oft Selbstgespräche mit fremdländischem Akzent. Im Augenblick war es ein deutscher, eventuell auch russischer. »Das lastige Wischen derr Boden.« Zuvor mit dem Staubsauger durchs Bad zu gehen konnte er sich sparen, denn der Boden war noch von letzter Woche her makellos sauber. Sah man nach dem Putzen einen Unterschied – glänzte der Couchtisch plötzlich und war der Teppich mit einem Mal flusenfrei –, hatte man Micahs persönlicher Theorie zufolge mit dem Putzen zu lange gewartet. Auf seine Fähigkeiten im Haushalt bildete er sich eine Menge ein. Nach dem Wischen leerte er den Eimer in das Becken in der Waschküche und lehnte den Mopp an den Boiler. Dann ging er zurück und nahm den Wohnbereich in Angriff. Er faltete die Couchdecke zusammen, entfernte mehrere Bierdosen und klopfte die Kissen in Form. Das Mobiliar war sehr überschaubar – die Couch, ein Couchtisch und ein hässlicher brauner Liegesessel aus Kunstleder. Alles war bei seinem Einzug schon da gewesen; nur das metallene Kellerregal für seine Technikzeitschriften und Handbücher stammte von ihm. Alles, was er sonst noch las – hauptsächlich Krimis und Biografien –, holte er sich aus dem öffentlichen Bücherschrank und stellte es nach erfolgter Lektüre zurück, damit er sich keine weiteren Regale anschaffen musste. Nachdem der Küchenboden in der Zwischenzeit getrocknet war, kehrte Micah an die Spüle zurück, wusch das Frühstücksgeschirr, trocknete es ab und räumte es ein. (Manche ließen es an der Luft trocknen, doch er hasste den Anblick eines überladenen Abtropfgestells.) Dann setzte er seine Brille auf – randlose Fernsichtgläser zum Autofahren –, nahm das magnetische Dachschild und seine Umhängetasche und verließ die Wohnung durch die Hintertür. Die Hintertür befand sich im rückwärtigen Teil des Gebäudes, am Fuß einer Treppe aus Betonstufen, die zum Parkplatz hinaufführte. Nach dem Aufstieg blieb er kurz stehen, um eine Einschätzung des Wetters vorzunehmen. Es war jetzt wärmer als während seines Morgenlaufs, und der Wind hatte sich gelegt. Gut, dass er die Jacke nicht mitgenommen hatte. Er befestigte das Schild auf dem Wagendach, stieg ein, ließ den Motor an und winkte Ed Allen zu, der mit einer Lunchbox zu seinem Pick-up trottete. Am Steuer tat Micah gerne so, als stünde er unter Beobachtung eines alles registrierenden Überwachungssystems, des von ihm so bezeichneten Verkehrsgotts. Der Verkehrsgott bestand aus einem Trupp Männer, die in Hemdsärmeln und mit grünen Stirnschirmen Micahs perfekten Fahrstil kommentierten. »Achtet mal darauf, dass er auch dann blinkt, wenn keiner hinter ihm ist«, sagten sie beispielsweise. Micah blinkte ausnahmslos immer, sogar auf seinem eigenen Parkplatz. Beim Beschleunigen stellte er sich, ganz wie es sich gehörte, ein Ei unter dem Gaspedal vor; beim Bremsen glitt er fast unmerklich in den Stillstand. Und wenn ein anderer Fahrer glaubte, in letzter Sekunde auf Micahs Spur wechseln zu müssen, drosselte Micah verlässlich sein Tempo und ließ ihm mit einer leichten Aufwärtsbewegung der linken Hand höflich den Vortritt. »Habt ihr das gesehen?«, sagten die Verkehrsgott-Männer. »Der Bursche hat einwandfreie Manieren.« Das machte das Fahren ein bisschen weniger dröge. Er bog in die Tenleydale Road ein und parkte am Straßenrand. Als er nach der Tasche greifen wollte, klingelte sein Handy. Er zog es hervor, schob die Brille auf die Stirn und las, was auf dem Display stand. CASSIA SLADE. Das war ungewöhnlich. Cass war seine Partnerin (er weigerte sich, eine Frau Ende dreißig als seine »Freundin« zu bezeichnen), aber um diese Zeit telefonierten sie normalerweise nicht. Um diese Zeit war sie in der Arbeit, steckte knietief in Viertklässlern. Er tippte auf Annehmen und fragte: »Was gibts?« »Ich werde rausgeschmissen.«