Als ihr Vater eines Nachts vor seinem Diner in der kalifornischen Wüste angefahren und getötet wird, glaubt Nora nicht an einen Unfall. Gemeinsam mit Jeremy, einem alten Schulfreund, stellt sie Nachforschungen an und stößt dabei auf Dinge, die ihren Vater in komplett neuem Licht zeigen. Was hatte er zu verbergen? Und was hat das mit seinem Tod zu tun?
Nora
Mein Vater wurde in einer Frühlingsnacht vor vier Jahren getötet, während ich in der Ecknische eines kurz zuvor eröffneten Bistros in Oakland saß. Wann immer ich an jenen Augenblick denke, sehe ich diese beiden miteinander völlig unvereinbaren Bilder vor mir: mein Vater nach Luft ringend auf dem rissigen Asphalt und ich beim Champagnertrinken mit meiner Mitbewohnerin Margo. Wir feierten, weil die Jerome Foundation Margo ein Stipendium gewahrt hatte, damit sie ein neues Kammermusikstuck komponieren konnte. Es war für sie bereits die zweite große finanzielle Zuwendung in diesem Jahr. Wir hatten Miesmuscheln bestellt, teilten uns ein Hauptgericht und ließen es ziemlich spät werden. Als der Kellner uns zu einer Mousse au Chocolat als Dessert zu überreden versuchte, klingelte mein Handy. An alles Folgende habe ich keine deutliche Erinnerung. Offenbar teilte ich Margo die Nachricht mit. Offenbar zahlten wir, zogen unsere Mantel an und legten die fünf Häuserblocks zwischen dem Bistro und unserer Wohnung zu Fus zurück. Irgendwie muss ich es geschafft haben, eine Reisetasche zu packen. Die Fahrt nach Hau- se auf dem Freeway 5 und das neblige Dunkel, das die Mandel- und Orangenplantagen verhüllte, sind mir dagegen ebenso klar in Erinnerung geblieben wie die ständig wechselnden Erklärungen, die ich mir auf dieser Fahrt zusammenträumte: Vielleicht hatte die Polizei die Leiche falsch identifiziert oder das Krankenhaus die Patientenakte meines Vaters mit einer anderen verwechselt. Obwohl das weit hergeholt war, klammerte ich mich daran. Trotz des Scheinwerferlichts konnte ich nicht mehr als sechs Meter weit sehen, doch im Morgengrauen lichtete sich der Nebel, und als ich die Mojave erreichte, war die Sonne aufgegangen und der Himmel strahlend blau. Beim Betreten meines Elternhauses war nur das Klappern meiner Absätze auf dem Travertinboden zu hören. Auf dem Tischchen beim Eingang lagen ein Reader’s Digest, ein gelbes Kunststoffarmband, an dem mehrere Schlüssel hingen, und eine Sonnenbrille, der ein Glas fehlte. Eine der gerahmten Fotografien an der Dielenwand hing schief. Meine Mutter saß auf dem Wohnzimmersofa und starrte das schnurlose Telefon in ihrer Hand an, als hatte sie verlernt, es zu bedienen. Ich rief ≫Mom?≪, aber sie blickte nicht auf. Als konnte sie mich nicht hören. Sie trug noch das weiße T-Shirt und den schwarzen Gi vom Karatetraining am Abend zuvor. Auf dem Polsterhocker lag ihre achtlos hingeworfene Trainingsjacke. Der Drache am Ruckenteil leuchtete knallrot. Damals kam es mir vor, als lebte mein Vater noch – wegen der halb leeren Marlboro-Packung auf dem Fensterbrett, der abgenutzten Pantoffeln unter dem Couchtisch und der Nagespuren am Kugelschreiber, der aus dem Kreuzworträtselbuch herauslugte. Jeden Moment wurde er, nach Kaffee und Hamburgern riechend, hereinkommen und sagen: Du glaubst gar nicht, was mir ein Gast heute erzählt hat! Dann wurde er mich neben dem Sessel stehen sehen und rufen: Nora! Seit wann bist du da? Seine Augen wurden vor Freude strahlen, seine Bartstoppeln wurden mich kitzeln, wenn er mich auf beide Wangen küsste, und ich wurde erwidern: Gerade erst angekommen. Doch niemand erschien in der Tür, und der Schmerz fuhr mir wie eine Faust in den Magen. ≫Ich verstehe das nicht≪, sagte ich und meinte damit, dass ich es nicht fassen konnte. Fassungslosigkeit war das einzige konstante Gefühl gewesen, seit ich die Nachricht erhalten hatte. ≫Ich habe doch gestern noch mit ihm telefoniert.≪ Endlich regte sich meine Mutter und wandte mir ihr Gesicht zu. Ihre Augen waren rot gerändert, ihre Lippen rissig. ≫Du hast mit ihm telefoniert?≪, fragte sie überrascht. ≫Was hat er gesagt?≪ In der Diele klapperte die Abdeckung am Briefschlitz, und mit dumpfem Knall landete die Post auf dem Boden. Die Katze in ihrem Weidenkorb hob kurz den Kopf; dann schlief sie weiter. ≫Was hat er gesagt?≪, fragte meine Mutter noch einmal. ≫Nichts. Er wollte nur ein bisschen plaudern, aber ich musste in den Unterricht zurück und wollte mir vorher noch einen Kaffee holen. Ich habe ihm gesagt, dass ich zurückrufe.≪ Meine Hand flog an meinen Mund. Ich hatte die Chance verpasst, noch ein Mal mit ihm zu reden, noch ein Mal seine fürsorgliche Stimme zu hören – nur wegen eines bitteren Kaffees im Pappbecher, hastig hinuntergestürzt, bevor ich wieder vor eine Prepschool-Klasse treten musste, die sich gelangweilt durch die Odyssee quälte. Auf der Straße raste ein Motorrad vorbei und brachte die Fensterscheiben zum Zittern. Nervös öffnete ich den Verschluss meiner Armbanduhr und lies ihn wieder einrasten. Die dustere Stille kehrte zurück. ≫Was hat Dad denn so spät im Restaurant gemacht?≪, fragte ich. ≫Normalerweise schließt doch Marty ab.≪ ≫Er wollte noch die neuen Glühbirnen eindrehen. Marty durfte nach Hause gehen.≪ Und dann? Dann musste er abgeschlossen haben und losgegangen sein. Vielleicht hatte er mit seinen Schlüsseln gespielt, so wie immer, wenn er in Gedanken versunken war. Oder eine Textnachricht auf dem Handy hatte ihn abgelenkt. Das Auto, das ihn über den Haufen fuhr, hatte er jedenfalls erst bemerkt, als es zu spät war. Hatte er gelitten? Hatte er um Hilfe gerufen? Wie lange hatte er auf dem Asphalt gelegen, bis sein Atem schwacher wurde? Plötzlich fiel mir die Party bei unseren Nachbarn ein, als ich vier war. Sie hatten ihren Garten umgestaltet und prahlten vor meinen Eltern mit der neuen Grillstelle und der neuen Sitzlandschaft. Meine Schwester hatte keine Lust, sich mit mir abzugeben, sie wollte lieber mit den älteren Kindern spielen. Ich jagte zwei Libellen hinterher, und als ich eine mit der Hand zu fangen versuchte, fiel ich in den Pool. Das Wasser war eiskalt und schmeckte nach Mandeln. Es zog mich mit solcher Kraft nach unten, dass ich meinen letzten Atemzug kommen sah. Es dauerte nur eine Sekunde, bis mir mein Vater nachsprang, doch in dieser einen Sekunde erstarrten meine Arme und Beine, meine Brust brannte, und mein Herz blieb fast stehen. Diesen Schmerz empfand ich jetzt wieder. ≫Irgendwas stimmt da nicht≪, sagte ich nach einer Weile. ≫Da geht Dad ein einziges Mal als Letzter und wird überfahren und getötet?≪ Ich bemerkte zu spät, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Meine Mutter begann zu weinen. Das heftige, halt lose Schluchzen trieb ihr das Blut ins Gesicht und lies ihre Schultern beben. Ich ging durchs Wohnzimmer, räumte den eingerollten Gebetsteppich aus dem Weg, setzte mich zu ihr und hielt sie so fest, dass ich ihre Zuckungen spurte. Alles an der Situation fühlte sich falsch an – dass ich an einem Werktag im Frühling in diesem Haus war, dass ich meine Schuhe anbehalten hatte, sogar dass ich meine weinende Mutter tröstete. Bei uns war mein Vater der Tröster. Immer wenn mir etwas zugestoßen war, ging ich als Erstes zu ihm – ob als Achtjährige mit meinen aufgeschürften Knien oder, wie erst im Monat zuvor, weil ich wieder einmal einen Kompositionswettbewerb verloren hatte. Meine Mutter schnäuzte sich mit einem zerknitterten Taschentuch. ≫Als ich von deiner Schwester zurückgekommen bin, war mir schon klar, dass etwas nicht stimmt. Ich habe ihr Karate-Aufnäher für die Kinder gebracht, und sie hat mich gefragt, ob ich zum Abendessen bleibe. Danach kam ich nach Hause, und er war nicht da.≪ Auf dem Sessel, in dem mein Vater immer saß, war noch der Abdruck seines Körpers zu sehen. Als ware er nur kurz ins Nebenzimmer gegangen. ≫Was hat die Polizei gesagt?≪, fragte ich. ≫Gibt es irgendwelche Hinweise?≪ ≫Nein. Die Frau von der Polizei hat mir nur eine Menge Fragen gestellt. Ob er Geldprobleme hatte, ob er Drogen genommen, gespielt oder Feinde gehabt hat. Solche Sachen. Ich habe Nein gesagt.≪ Die Fragen verwunderten mich, weil sie so anders waren als das, was mir durch den Kopf ging: Wer hatte am Steuer des Wagens gesessen, wie war mein Vater angefahren worden und warum die Fahrerflucht? Ich blickte aus dem Fenster und sah, wie sich zwei Amseln nacheinander auf die Stromleitung setzten. Der Nachbar von gegenüber lies die Luft aus dem riesigen Osterhasen, der wochenlang in seinem Vorgarten gestanden und Dreck angesetzt hatte. Während unter den Schuhen des Mannes die weisen Löffel in sich zusammenfielen, starrte mich das Tier mit grotesk verzerrten Augen an. Der Wind peitschte die Fahne am Mast, und die Sonne brannte gnadenlos.
Jeremy
Ich hatte damals Schlafprobleme und ging immer schon um fünf Uhr morgens ins Fitnesscenter, gleich wenn es öffnete. Meine Ärztin meinte, regelmäßige Bewegung wurde helfen, aber auch heiße Bader, lichtundurchlässige Vorhänge, Lesen, Kamillentee. Also nahm ich ausgiebige Bader, las vor dem Schlafengehen und schüttete Kamillentee in mich hinein. Trotzdem lag ich meistens wach und lauschte dem in der Stille tickenden Wecker. Wenn du jetzt einschläfst, sagte ich mir, bekommst du immerhin noch vier Stunden Schlaf oder drei oder zwei. Als konnte man sich mit Vernunft zum Einschlafen bringen. Kurz vor fünf stand ich dann immer auf und fuhr zu Desert Fitness. An jenem Morgen hatte ich bereits das Cardio-Training hinter mir und machte gerade meine Crunches, als Fierro reinkam. Weil im Studio kaum etwas los war, freute ich mich über ein bisschen Gesellschaft, obwohl Fierro kein anderes Thema kannte als seine Ex. Mary und er hatten sich kurz zuvor getrennt, was er allerdings nicht recht wahrhaben wollte. Weil er so viel laberte, verzählte ich mich und musste zwei Mal abbrechen und neu anfangen, bevor ich mir sicher war, meine Trainingseinheit vollständig absolviert zu haben. Fünfzig Standard, fünfzig Reverse, fünfzig Double und fünfzig Bicycle Crunches. Obwohl mein Dienst erst in zwanzig Minuten begann, ließ ich die Bizeps Curls vorsichtshalber aus und ging gleich zum Bankdrucken über. Beim Gewichtstemmen vertrage ich keine Hektik. Nachdem ich hundert Kilo aufgepackt und mich hingelegt hatte, kam Fierro und legte, ohne mich zu fragen, noch mal zwei Fünf-Kilo-Scheiben drauf. ≫Was soll das?≪, fragte ich. ≫Alter, wenn du’s nicht ordentlich machst, brauchst du’s überhaupt nicht zu machen.≪ Er stellte sich hinter die Bank, um mich gut im Blick zu haben. Lauerte geradezu. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck One Shot, One Kill. Die Armel hochgeschoben, damit man seine Muskeln gut sah. ≫Und ordentlich heißt, so wie du es machst, ja?≪ Er neigte mir sein linkes Ohr zu, das gute. ≫Was?≪ ≫Vergiss es.≪ Entweder stritt ich mich jetzt mit Fierro, oder ich fing mit den Gewichten an und kam pünktlich zur Arbeit.