Frankreich und Holland um 1900. Die junge Jo van Gogh-Bonger verliert ihren geliebten Mann Theo an die Syphilis. Kurz zuvor hat sich Theos Bruder Vincent van Gogh erschossen. Jo bleibt nichts als ein Baby und Hunderte Bilder des noch unbekannten Malers. Sie beschließt, Vincent weltberühmt zu machen, und setzt damit eine gigantische Erfolgsstory in Gang.
Über hundert Jahre später stößt die Kunsthistorikerin Gina auf Jos Geschichte. Und Jo nimmt sie mit in eine Welt voller Menschen, die besessen sind: von der Liebe, der Kunst und von Visionen.
Ginas Vater ist Schriftsteller und versucht seit zwanzig Jahren erfolglos, sein zweites Buch zu schreiben. An seiner Seite wird Ginas Faszination für Jo selbst zu einem rauschhaften Roman über eine kurze, aber folgenreiche Liebe. Und über zwei Familiengeschichten im Zeichen der Kunst.
ALL DIES IST MÖGLICHERWEISE GENAU SO GESCHEHEN
Ich war eine faule Frau. Wenn sich Arbeit vor mir aufzutürmen drohte, begegnete ich ihr mit äußeren Vorzügen und innerer Leere. Die Vorzüge lenkten den Gegner ab. Die Leere verhinderte ein schlechtes Gewissen. Beides führte zuverlässig dazu, dass sich die Arbeit verflüchtigte. Doch dann wurde alles anders.
Es war Sommer, und ich fuhr zu meinem Vater ans Meer. Er trank und träumte in seiner Hängematte von einem verpassten Leben als großer Schriftsteller. Das Meer war wie erwartet ereignislos. Es hätte ein angenehm banaler italienischer Sommer werden können, ein Sommer wie in einem Film, mit Flirts und Vespas und langen Beinen unter kurzen Kleidern. Wenn ich nicht diese seltsame Unruhe mitgebracht hätte. Seit Wochen hatte sich in mir etwas eingenistet und besetzte mich. Seit Wochen knallte in mir die Liebe mit aller Härte auf den Tod, es entstanden gleißende Sternbilder aus Geschichten, und ich wusste, dass ich eine davon festhalten musste. Die Geschichte von Jo. Von einer Frau aus einem anderen Jahrhundert. Einer Frau, die eine kurze Liebe mit gewaltigen Folgen erlebt und einen Mann zum Genie gemacht hatte. In Fachkreisen ist sie bekannt, doch Fachkreise sind winzig, nicht größer als der Ring, den ein Regentropfen auf der Meeresoberfläche hinterlässt. Ich hatte bis vor ein paar Wochen noch nie von ihr gehört, ich hatte mich zufälligerweise über ihr Leben gebeugt, im Vorbeigehen, dachte ich, doch sie stellte sich mir mit aller Selbstverständlichkeit in den Weg und blieb dort stehen. So lange, bis ich Ja zu Jo sagte. Ich verliebte mich mit ihr in ihre tragischen, exzentrischen Männer. Ich verliebte mich auch in ihren kleinen Bruder, der Detektiv werden wollte, in das Mädchen Rachel, das beinahe seinen Arm verlor und ein Ohr geschenkt kriegte, und in andere Mädchen, auf deren kindlichen Körpern sich die Fantasien einer ganzen Großstadt austobten. Sie alle entfalteten ein Leben, wurden zu wundervollen und wütenden Parasiten, und zum ersten Mal erwachte in mir die Lust, etwas zu schaffen. Geradezu ein Hunger. Ich setzte mich hin und schrieb, denn das ist in unserer Familie das Naheliegendste. Ich schickte meiner Schwester ein paar Skizzen, und meine Schwester verriet mich an meinen Vater. Hilf ihr, forderte sie von ihm, doch ich warne dich, sie schreibt auch über uns, sie schreibt über Familien, die Liebe und die Kunst. Jetzt habe ich Angst, sagte Vater. Es gibt keine Ausrede, sagte meine Schwester, du hast uns zwanzig Jahre lang nicht geholfen, du hilfst ihr jetzt. Und so blieb ich noch eine Weile bei ihm. Es wurde mein Entzug vom ziellosen Leben. Wie jeder Entzug war er erbarmungslos.
Es wurde Herbst, und mein Vater war nicht zufrieden mit mir. Es wurde Winter, und mein Vater verlor allmählich die Geduld. Manchmal klammerte ich mich vor Erschöpfung zitternd an die Tischkante, einmal fiel ich fiebernd vom Stuhl und schlug mir die Stirn blutig. Fahr endlich nach Hause, sagte Vater, ich will meinen Frieden wieder. Er kochte Kaffee, er fütterte mich, er ließ mich allein. Er kam zurück und las, was ich geschrieben hatte. Das muss geschmeidiger werden, sagte er, das ist zu schlicht, zu schlecht, befreie dich, lass los. Lass mich in Ruhe, sagte ich. Wäre das eine Mahlzeit, sagte er, du würdest sie nicht essen wollen, du würdest andauernd auf Sand und Knochensplitter beißen. Wir kämpften. Ich hasste ihn. Ich brauchte ihn. Doch als der Winter auf seinem Tiefpunkt war, als es in Vaters Haus am Meer nicht mehr auszuhalten war vor salzig klammer Kälte, als die kleine Elektroheizung mit einem Zischen und dem Gestank von verbrannten Kabeln aufgab, als die Fliesen der Terrasse vor dem Haus bläulich durch eine dünne Schneeschicht schimmerten, da war Vater endlich mit mir zufrieden.
Jetzt ist wieder Sommer. Vater und ich sitzen auf einer Bühne, neben uns steht der Veranstalter, vor uns sitzen die wenigen, die Vater noch nicht vergessen haben, und andere, die jünger sind und attraktiver. Ich greife zum Mikrofon, ich habe in den letzten Wochen ein erotisches Verhältnis zu Mikrofonen entwickelt, es ist, als würde ich alle küssen, die vor mir da waren. Bitte, schenken Sie mir nach der Lesung nichts, wende ich mich an den Veranstalter, nichts Praktisches, nichts Hübsches, nichts lustig Gemeintes, auf dem sich irgendein Motiv des Genies befindet. Wenn ich noch einmal den Sternenhimmel aus Legosteinen oder eine Schürze mit Sonnenblumen erhalte, übergebe ich mich. Das Publikum lacht. Sie haben meine Tochter gehört, sagt mein Vater, und ich kann ihnen versichern, sie kann sich äußerst unappetitlich übergeben, niemand weiß das besser als ich. Das Publikum lacht lauter. Es ist neugierig, es will naturgemäß viel Familiäres wissen, wie ich den Schriftsteller-Vater als kleines Kind erlebt habe, ob ich mich als seine Erbin begreife, wieso er nie ein zweites Buch geschrieben hat, und wie lange sich einer in seinem Fall eigentlich Schriftsteller nennen darf. Wenn es nach mir ginge, für immer, sage ich, stehe auf, beuge mich über die erste kahle Stelle auf Vaters Hinterkopf und drücke einen Kuss darauf. Sein Haar riecht nach Meer, seine Haut nach Whisky. Ich schlage mein Buch auf und beginne. All dies ist möglicherweise genau so geschehen.
JO ENTSCHEIDET SICH
Jo weiß, dass sie Theo nie lieben wird. Jo weiß, dass sie nie mehr ohne Theo leben will. Dazwischen liegen siebzehn Monate, in denen Theo nichts anderes getan hat, als Jo seine Liebe zu erklären. Sie beginnen im Juli 1887 in Amsterdam und enden im Dezember 1888 in Paris. Der Juli und der alles entscheidende Dezember sind ungewöhnlich mild, es liegt eine meteorologische Gelassenheit über der Welt, als würde sie sich überhaupt nicht für die Geschichte von Jo und Theo interessieren, als besäße sie keinerlei stürmische, heiße oder anderweitig dramatische Anschmiegsamkeit an diese unerwartet folgenreiche Liebe. Zum Glück bleibt Theo in dieser Zeit der sturste Verliebte zwischen Paris und Amsterdam. Zum Glück erholt sich Jo in dieser Zeit von der Liebe zu einem anderen.
Der andere heißt Eduard, studiert Medizin und ist jünger als Jo. Sie haben sich vor Jahren kennengelernt, am Rand der Kindheit noch, doch plötzlich gewinnt ihre Freundschaft an Innigkeit und an Tragik, plötzlich geschehen Dinge, die ihnen die letzte spätpubertäre Unbekümmertheit austreiben. Plötzlich stirbt Eduards kleine, eben noch überaus lebhafte Schwester, und Jo steht neben ihm am offenen Sarg, der Tod hat alle überrascht, es ist eine Zumutung, wie schnell und jung viele Menschen sterben, denkt Jo, Tuberkulose, Syphilis, Herzversagen, ein Schuss. Vor den Augen der Trauergemeinde verwelken die Blumen im Sarg schneller als das sorgfältig präparierte Gesicht der Toten, und Jo glaubt, in Eduards Augen nicht nur Tränen, sondern auch ein wissenschaftliches Interesse an seiner Schwester zu entdecken, an der jungen Leiche, nur Lunge und Herz kurz und heftig von der Krankheit befallen, die anderen Organe intakt, kaum Schatten unter den geschlossenen Augen. Jo drückt ihre Lippen auf die Leichenstirn, sie fühlt sich kühl und trocken an, wie eine Zeitung, die im Winter auf der Straße verkauft wird. Und plötzlich tanzen Jo und Eduard am Studentenball seiner Fakultät miteinander, alles ist sentimental, und schon beim ersten Walzer wird deutlich, dass diese beiden das beste Paar auf dem Parkett sind, dass da etwas auf ideale Weise miteinander verschmilzt. Es ist nicht Jos erster Ball und Eduard nicht ihre erste Schwärmerei. Sie ist eine entspannte Empfängerin von allerlei Vergnügen und Heiratsanträgen, sie glaubt nicht an die Einmaligkeit, auch nicht an die Einmaligkeit der Liebe, doch als Eduard sie kurz vor Mitternacht fragt, ob er sie nach Hause begleiten dürfe und auf dem Weg die Melodie ihres Walzers summt, weiß Jo, dass dies eine Liebe ist. Die beiden sehen sich oft, gehen spazieren, legen sich nebeneinander ins Gras, halten sich an den Händen, manchmal nimmt er ihr Handgelenk und zeigt ihr, wo das Mondbein auf das Kahnbein trifft, und bringt eine Ader, die durch ihre Haut schimmert, zum Verschwinden, indem er seinen Daumen darauf presst. Manchmal hebt er sie hoch und trägt sie ein Stück weit, als wäre sie seine Frau. Seine Familie ist sich sicher, dass er Jo einen Antrag machen wird.
Sie küssen sich nie, obwohl Jo gerne küsst. Eine der Frauen, bei denen sie gewohnt hat, eine Miss Gard in London, hat ihr das Küssen beigebracht. Wenn Jo an sie denkt, sieht sie Miss Gard in einem silbergrauen Kleid vor sich, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Buch, die Lippen rot geschminkt, die Brille, die sie nur ungern aufsetzt, an einer Goldkette. Sie ist eine Frau ohne Mann, ist belesen, beliebt und schön nach Art der Rothaarigen und betreibt eine Pension, in der Jo während ihrer beiden Studienmonate in London wohnt. Gemeinsam gehen sie ins Theater, Sarah Bernhardt gastiert in London, Jo ist ganz aufgeregt, sie weiß alles über die Bernhardt, denn die Bernhardt erzählt den Magazinen und Zeitungen nichts lieber als ihre eigene Geschichte, dass ihre Mutter eine Kurtisane gewesen sei und sie selbst etliche Einträge im großen Pariser Kurtisanenregister stehen habe. Mademoiselle Sarah B. empfing Monsieur Gauthier, Mademoiselle Sarah B. empfing Monsieur Ducasse, stehe da, äußerst respektvoll, bewundernd beinahe, als hätte sie Hof gehalten, und die Geldbeträge, die sie von ihren Bewunderern erhalten habe, seien exorbitant gewesen. Jo kennt ein Foto der fünfzehnjährigen Sarah, viel Haut, viel Haar, ein erwachsenes, wissendes Gesicht, der Blick kühl und fordernd, eine interessante Erscheinung. Doch dann sitzt Jo neben Miss Gard im Theater und sieht vor sich eine schöne Frau in schönen Kleidern, die so spektakulär und exaltiert spielt, dass es Jo beinahe peinlich ist. Weißt du, wen sie wirklich liebt, flüstert Miss Gard in der Pause, und die Pupillen ihrer Augen vergrößern sich dabei zu einer endlosen, sternenlosen Nacht, sie liebt keinen Mann, sie liebt eine französische Malerin, ein Leben lang und über den Tod hinaus, soll sie gesagt haben, und jeder Mann sei nichts als eine Beilage. Als sie nach dem Theater in der Pension am Kamin sitzen, als sich Miss Gard über Jo beugt und mit einer silbernen Zange ein Stück Gebäck neben Jos Tee legt, kommen sich ihre Gesichter entgegen, und Jo küsst Miss Gard auf den Mund. Und Miss Gard küsst Jo. Dreimal küssen sie sich, wie Jo überglücklich in ihrem Tagebuch vermerkt. Miss Gard nimmt Jo mit in die Kirche, zu Debattierclubs, wo Miss Gard als einzige Frau die Erlaubnis hat mitzureden, oder zum Dreiradfahren an die Themse. Und während Jo Tag für Tag in London in der British Library sitzt und sich auf ein Examen in englischer Literaturgeschichte vorbereitet, verbringt sie zu viele Stunden damit, mit dem übersteigerten Empfinden einer Zwanzigjährigen über Miss Gards Lippen nachzudenken.
Format:
272 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9657-8
Erscheinungsdatum: 29. Februar 2024
»Simone Meier hat einen packenden Künstlerroman geschrieben, in dem die Kunst Sprache wird und die Sprache Kunst... ein großartiges Buch.«
Die Presse
Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane Fleisch, Kuss und Reiz. Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.