Während seine Altersgenossen bei Rekordhitze feiern, trinken und unbedingt noch ein Mädchen klarmachen wollen, taumelt der 17-jährige Léonard alleine und übermüdet durch die letzten Stunden seiner Sommerferien auf einem französischen Campingplatz. Die Nacht zuvor steckt ihm in den Knochen: Er hat einem Jungen reglos beim Selbstmord zugesehen – ist dessen Tod also seine Schuld? Zugleich verwirrt ihn die verführerische Luce, hilflos und hingerissen ist er ihren schamlosen Spielchen ausgesetzt. Gefangen in seinen komplexen und gegensätzlichen Gefühlen, vermag Léonard seinem Delirium kaum zu entrinnen.
Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe, ohne mich zu rühren. Erdrosselt von den Seilen einer Schaukel, wie die Kinder in den vermischten Nachrichten. Oscar war kein Kind. Mit siebzehn stirbt man nicht so, nicht ohne Absicht. Man drückt sich die Kehle zu, um etwas zu fühlen. Vielleicht versuchte er, so zum Höhepunkt zu kommen. Deswegen waren wir doch alle hier. Wie auch immer, ich habe mich nicht gerührt. So kam das alles.
Es war der letzte Freitag im August und schon spät. Der Campingplatz schlief. Blieben noch die Jugendlichen am Strand. Auch ich war siebzehn, aber ich war nicht dabei. Ihre Musik hinderte mich am Einschlafen. Sie kroch über die Düne, mit den Wellen und ihrem Gelächter. Sobald sie verstummte, hörte ich, wie sich meine Eltern in ihrem Zelt bewegten. Ich konnte einfach nicht still liegen. Steine drückten durch meine Luftmatratze, und an meiner Haut klebte Sand. Manchmal kam der Schlaf, doch dann schrie wieder irgendjemand am Strand. Es war ein grausamer, gegen mich gerichteter Kosmos der Freude, ein großer Tanz um mein Zelt herum. Ich war am Ende meiner Kräfte. Ein Tag noch, und die Ferien wären endlich vorbei. In jener Nacht stand ich wieder auf und ging spazieren. Auf dieser Seite war alles ruhig. Die Zelte und Bungalows verschwammen zu Schatten. Nur der Kondomautomat leuchtete. »Schützt euch« stand darauf. Gemeint war vor allem Tut es. Die Jugendlichen kauften jeden Abend welche, stolz und verschämt zugleich. Kaufen bedeutete schon ein bisschen, es zu tun. Doch oft endete es mit einem Gummiballon, der in der Luft zerplatzte wie eine Ader mitten im Herzen. Dieser Campingplatz hatte mir schon schwer zu schaffen gemacht. Seit zwei Wochen lief ich die schmalen Alleen auf und ab, erfand Umwege, um die Zeit totzuschlagen. Ich war auf alle Partys gegangen, hatte mich bemüht. Und jedes Mal war ich schon nach kurzer Zeit wieder abgehauen, hatte nach ein paar Getränken so getan, als würde ich mir ein neues holen, um unbemerkt am Wasser entlang zurückzugehen. Aber ich bekam dennoch wenig Schlaf. Die Musik spielte immer weiter und ich war derart aufgewühlt, dass die Anspannung bis zum Morgengrauen vorhielt. Auf einem meiner Umwege stieß ich in dieser Nacht auf Oscar. Ich ging am Spielpark vorbei und sah ihn auf der Schaukel. Er war betrunken. Die Seile waren um seinen Hals gewickelt. Zuerst habe ich mich gefragt, was er da tat. Ich hatte ihn vorher mit den anderen am Strand tanzen sehen. Er hatte Luce geküsst, und ich hätte mich beinahe übergeben; es fiel mir wieder ein, ihre fast nackten Körper, die sich in der Dunkelheit abzeichneten. Nun hing er vor meinen Augen alleine an der Schaukel, und ich begriff, dass er starb. Die Seile würden ihn langsam erdrosseln. Er hatte das selbst getan, und nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, hatte er seine Meinung vielleicht geändert. Ich rührte mich nicht. Nichts rührte sich in dem einsamen Park. Die hochgewachsenen Pinien verdeckten den Mond. Plötzlich hat Oscar mich gesehen, sein Blick fixierte mich und ließ nicht mehr von mir ab. Er öffnete den Mund, doch nichts drang heraus. Er bewegte die Füße, aber sein Körper folgte nicht. So schauten wir uns an. Es stimmte, dass ich in den Tagen zuvor manchmal gewollt hatte, dass er verschwindet, wenn er in seiner blauen Badehose dastand und lächelte. Hinter der Düne spielte immer noch die Musik, ich erkannte den Refrain: Blow a kiss, fire a gun … We need someone to lean on … Es dauerte. Erdrosselt werden dauert. Der Augenblick seines Todes wurde hinausgezögert und entging mir. Ich fühlte mich einfach immer einsamer. Irgendwann fiel sein Kopf nach vorn, was den Seilen einen Schubs zu geben schien, denn sie drehten sich daraufhin zurück in die andere Richtung, wickelten sich immer schneller auf und ließen ihn los. Er fiel wie ein nasser Sack auf den weichen Boden des Parks. In siebzehn Jahren hatte ich kaum Dummheiten begangen. Diese hier war schwer zu begreifen. Es ging zu schnell und zu weit. Langsam näherte ich mich. Ich berührte Oscar an der Schulter, schüttelte und trat ihn. Als ich ihn herumdrehte, ging sein leerer Blick wie durch mich hindurch. Bevor ich nachdenken konnte, waren vom Strand her Stimmen zu hören. Eine kleine Gruppe Jugendlicher kehrte zurück, um schlafen zu gehen. Auch sie waren betrunken und redeten laut. Mir kam der Gedanke, dass sie mir vielleicht zuhören würden. Also rief ich nach ihnen, doch meine Stimme flog nicht weit, blieb bei mir. Lachend gingen sie vorbei. »Schnauze!«, brüllte ein Camper aus seinem Zelt. Sie verschwanden. Die Musik am Strand verstummte, und auch die Letzten kamen zurück. Lange stand ich da im Park, ohne mich zu verbergen. Schließlich war ich ganz allein, mit Oscar zu meinen Füßen, der immer noch tot war. Plötzlich durchzuckte mich der Gedanke, dass ich ihn umgebracht hatte, und vertrieb alles andere aus meinem Kopf. Da war nur noch dieser schwere Körper. Und dann tauchte klar und deutlich die Erinnerung an das große Loch auf, das ein paar Kinder am Nachmittag in die Düne gebuddelt hatten. Für mich war offensichtlich, dass Oscar verschwinden musste. Ich dachte nicht länger nach. Vielleicht spürte ich sogar, dass darin die wahre Dummheit lag, aber ich tat es, um irgendetwas zu tun. Ich packte ihn an den Beinen. Er war nicht besonders schwer. Langsam zog ich ihn durch den Park, dann über den Schotter eines Weges, das Gras eines leeren Zeltplatzes, über eine feine Sandschicht. Mit jeder Oberfläche veränderte sich das Geräusch des Körpers. Ich konzentrierte mich auf meine Bewegungen, um nicht an etwas anderes zu denken, um nicht zu verstehen, was diese Augenblicke bedeuteten. Ich zog einen Körper, ganz einfach. Vor der Düne machte ich eine kurze Pause. Alles war still. Oscar war so still. Die Luft war nun kühler, fast angenehm. Es war bestimmt schon mitten in der Nacht. Bergauf waren wir noch langsamer, sanken in den Sand ein, verfingen uns in den Disteln. Viele verletzten sich, wenn sie barfuß in sie hineinrannten. Endlich tauchte der Strand vor uns auf. Menschenleer und mit Abfall übersät, der am Morgen aufgesammelt werden müsste. Ich überlegte, ob ich Oscar ins Meer legen könnte, sodass die Wellen ihn davontrügen. Aber das Wasser stand zu tief. Zwischen dem Meer und mir lag ein weiter Weg, und ich war bereits außer Atem. Also das Loch. Ich ließ Oscar los, lief die Düne ab und fand es gleich neben der Badeflagge. Es war nicht besonders groß. Ich hockte mich hin und verbreiterte es auf die Größe eines Jugendlichen. Den Sand, der sich unter die Nägel schob und die Haut zum Knirschen brachte, konnte ich nicht ausstehen, aber dieses Mal scheute ich mich nicht und bearbeitete ihn mit ausholenden, energischen Armbewegungen. Als ich mit dem Ergebnis zufrieden war, ging ich Oscar holen. Ich zog ihn zum Loch und bugsierte ihn hinein, mit seitlich angewinkelten Beinen. Sein Gesicht war schmutzig, staubbedeckt. Ich säuberte es mit den Fingerspitzen. Dann warf ich wieder Sand darauf, und auch auf seinen ganzen Körper. Das kostete viel Zeit. Mein Kopf war leer. Ich hörte meinen Atem und das Rauschen der Wellen. Endlich war da statt dem Loch nur noch Sand und Oscar darunter weniger schwer. Er verschwand sogar ein wenig. Ich stand auf und schaute in den klaren Himmel. Eine leise Melodie ertönte. Ich begriff, dass das Geräusch von unten kam. Erneut kniete ich mich hin und grub, machte meine ganze Arbeit zunichte. Alles war tief eingegraben. Die Melodie fing immer wieder von vorne an. Schließlich stieß ich auf Oscar – in seiner Badehose klingelte sein Handy: Luce ruft an. Ich schaltete es aus und schob es tief in meine Hosentasche. Keiner hatte es gehört. Alle waren weit weg. Ich schöpfte Atem und schüttete dann das Loch wieder zu, so sorgfältig wie beim ersten Mal. Es musste inzwischen sehr spät sein. Ich war allein, und alles schien am gewohnten Platz. Auf beiden Seiten der Düne, am Strand und auf dem Campingplatz, war es still unter den Sternen. Ich wollte noch etwas tun. Auf allen vieren wie ein Hund krabbelte ich den Weg zurück und verwischte meine Spuren. Als auch das getan war, wagte ich immer noch nicht, in mein Zelt zurückzukehren. Ich dachte an meine Eltern, die gerade schliefen, an meine Schwester und meinen Bruder, die ebenfalls schliefen. Die Party war vorbei. Ich beschloss, am Strand spazieren zu gehen. Ich ging am Ufer entlang, die Füße im Wasser. Die Ebbe gab Felsen frei, die sonst nicht zu sehen waren. Allmählich spürte ich, wie steif mein Körper war, wie kaputt von der Anstrengung. Ich versuchte über das, was ich getan hatte, nachzudenken und etwas zu fühlen. Aber mir fielen die Augen zu. Ich schwankte Richtung Meer. Es begann zu dämmern. Wieder lief ich über die Düne. Mir begegnete ein früher Jogger auf seinem Weg in den Wald. Zurück in meinem Zelt, schlief ich angezogen ein. Vor mir lag der letzte Ferientag, der heißeste – sogar der heißeste, den das Land seit siebzehn Jahre erleben sollte. Man hatte uns gewarnt. Es war durch die Lautsprecher in den Pinien verkündet worden, von denen einer direkt über meinem Kopf befestigt war und mich jeden Morgen weckte.
Originaltitel: La Chaleur
Aus dem Französischen
von
Sina de Malafosse
Format:
160 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9442-0
Erscheinungsdatum: 12. Mai 2020
Victor Jestin, 1994 geboren, wuchs in Nantes auf und studierte anschließend am Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle in Paris, wo er heute auch lebt. Nach seinem viel beachteten Debüt Hitze folgt nun mit Der Tanzende sein zweiter Roman, der ebenfalls mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde.