Am Ende dieser Geschichte steht eine Eskalation: Ein israelischer Tourguide streckt im Konzentrationslager von Treblinka einen deutschen Dokumentarfilmer mit einem Faustschlag nieder. Wie kam es dazu? In einem Bericht an seinen ehemaligen Chef schildert der Mann, wie er jahrelang Schulklassen, Soldaten und Touristen durch NS-Gedenkstätten geführt hat und wie unterschiedlich diese mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Nach und nach zeigt sich, dass seine Arbeit nicht spurlos an dem jungen Familienvater vorübergeht – die Grauen der Geschichte entwickeln einen Sog, gegen den keine akademische Distanz ankommt.
Sehr geehrter Herr Direktor von Yad Vashem, dies hier ist der Bericht über das, was dort vorgefallen ist. Mir wurde mitgeteilt, dass Sie einen solchen erwarten, und ich möchte ihn auch erstatten, da Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben. Zuerst wollte ich mich selbst ganz ausklammern, den Bericht rein akademisch abfassen, ohne meine Person und meinen Lebenslauf einzubeziehen, die an sich nicht besonders interessieren. Doch schon nach einigen Sätzen merkte ich, dass das nicht gelingen würde, denn ich bin das Gefäß, das die Geschichte enthält, und wenn die Risse in meinem Innern sich zum Bersten verbreitern sollten, wäre auch die Geschichte verloren. Wissen Sie, ich blicke seit jeher zu Ihnen auf. Ich war mehrmals an Debatten und Beratungen beteiligt, die Sie leiteten, Sie haben mir einige wichtige Aufträge erteilt, darunter auch das letzte Projekt. Nie werde ich Ihre bewegenden Worte bei der Präsentation meines Buches vergessen. Ich habe Ihnen nach besten Kräften assistiert, kann mich aber nicht entsinnen, dass wir je persönliche Worte gewechselt hätten. Ich mache Ihnen das nicht zum Vorwurf, Sie tragen eine schwere Bürde. Ich erinnere mich an den schönen Blick, den man aus Ihrem Büro über den Jerusalem-Wald hat, an den Natursteingeruch der Wände und das gute Tuch Ihrer Kleidung. Ich habe mich stets als treuen Abgesandten betrachtet. Ich sehe Ihr kluges Gesicht vor Augen und spreche Sie als den offiziellen Repräsentanten der Erinnerung an.
Zur Holocaustforschung bin ich aus pragmatischen Erwägungen gelangt. Nach der Wehrentlassung und der üblichen Zeit der Reisen und Zukunftspläne schrieb ich mich für die Studienfächer Internationale Beziehungen und Geschichte ein. Ich strebte eine Diplomatenlaufbahn an, dachte, im Ausland könnte ich unbeschwerter leben. Ich wusste zwar, dass das Ansehen des diplomatischen Dienstes bröckelt, da er im digitalen Zeitalter an Bedeutung verliert, aber ich betrachtete das sogar als Vorteil. Ich sah mich in einer tropischen Stadt im hellen Anzug im Café sitzen und meine Tage in goldener Muße verbringen, mit einem bescheidenen, aber respektablen Gehalt vom Staat. Ich strebte nicht die Rolle eines Stars an, nach dem Straßen und Plätze benannt werden. Ich las gern Bücher über historische Gestalten und Ereignisse, sie beruhigten mich, weil alles darin beendet und besiegelt ist, nichts sich mehr ändern kann. Fiktive Geschichten wurden von einem Menschen und seinen Capricen bestimmt und machten mich unruhig. Im zweiten Studienjahr, mit vierundzwanzig Jahren, trat ich zu den Prüfungen des Auswärtigen Amtes an und bestand mühelos den ersten, schriftlichen, Teil. Beim zweiten Teil, zu dem ich einige Wochen später einbestellt wurde, veranstalteten unsere Prüfer soziale Workshops und listige Spielchen mit uns und interviewten uns zum Abschluss einzeln. Im Verlauf dieses Tages spürte ich mein Scheitern. Ich brauchte den Antwortbrief gar nicht erst abzuwarten, um zu wissen, dass ich durchgefallen war. Eine Zeit lang erwog ich, alles hinzuwerfen und nach Fernost, nach Thailand, zu fahren, weil die Zukunft mir verschlossen schien, aber finanzielle und familiäre Erwägungen (mein Vater war damals erkrankt) hielten mich davon ab. Da der Traum vom diplomatischen Dienst ausgeträumt war, gab ich das Fach Internationale Beziehungen auf, das mich für sich genommen kaum interessierte, und studierte nur noch Geschichte. Es lag mir sehr, mich mit der Historie zu befassen, Arbeiten zu schreiben, zu forschen, stundenlang über alten Schriften in der Bibliothek zu sitzen, in die Cafeteria zu gehen, zurückzukehren – ich schob eine ruhige Kugel und gab mir den Anschein von Ernsthaftigkeit. Ich studierte gemächlich weiter bis zum zweiten Abschluss und entkam der Namenlosigkeit dank einer Seminararbeit in einem Kurs unter Leitung des Dekans, der sie sehr lobte, mich fortan förderte und mir eine Lehrassistentenstelle verschaffte. Ich avancierte zum vielversprechenden Nachwuchshistoriker, was mich mit Stolz erfüllte. Der Dekan sprach von Zukunftschancen, einem Auslandsstudium. Schon sah ich mich in Oxford oder Boston am Kamin sitzen, würdig und bequem altern, und bedauerte die Ablehnung des Außenamts nicht mehr so sehr.
Mir graute vor der modernen Geschichte, die mir wie ein mächtig tosender und schäumender Wasserfall vorkam. Ich suchte Ruhe und Gelassenheit in der Beschäftigung mit frühen Zeitaltern, deren Geschichte abgeschlossen und besiegelt ist und keinen Menschen mehr sonderlich aufregt. Ich erwog, mich der Geschichte des Fernen Ostens zu widmen, bedachte jedoch, dass ich dazu Chinesisch oder Japanisch lernen müsste, aber nur über geringe Sprachbegabung verfügte. Die Turbulenzen und Katastrophen unseres Volkes wollte ich meiden, erahnte schon zu Beginn des Weges die Gefahr, die mir dort drohte. Aber als ich Ruth kennenlernte und merkte, dass wir auf die Hochzeit zugingen, musste ich realistisch denken. Durch gründliches Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass mir theoretisch zwar die ganze Menschheitsgeschichte offenstand, praktisch aber nur wenige Lebenswege darin blieben. Die Lehrstühle an der Universität waren rar und von älteren Professoren besetzt, und neue Stellen für auswärtige Lehrkräfte, quasi Leiharbeiter, wurden zu einem Hungerlohn ausgeschrieben. Eines Tages informierte mich der mir wohlgesinnte Dekan, dass der militärische Nachrichtendienst Iranexperten suchte und einem geeigneten Kandidaten die Promotion in persischer Geschichte finanzieren würde. Allerdings müsste ich mich anschließend für sieben Jahre als Zeitsoldat verpflichten, fügte er hinzu. Ich wusste zwar, dass ich dann in einem Büro im Hauptquartier in Tel Aviv sitzen und nicht zu meiner alten Panzertruppe zurückkehren würde, aber der Gedanke an eine erneute Militärzeit bereitete mir einige Albträume und schlaflose Nächte. Ich teilte daher dem Dekan mit, dass ich nicht interessiert sei, zumal dieses Studium das Erlernen einer schwierigen Fremdsprache erfordern würde. Der Dekan zeigte Verständnis und sagte, dann bliebe mir allerdings nur eine einzige realistische Möglichkeit, als Historiker in Israel zu leben – ich müsste in Holocauststudien promovieren. Davor grauste mir. Ich wollte weiterhin als ruhiger Mensch, sorglos und unaufgeregt, durchs Leben segeln, unternahm einige fruchtlose Versuche, mich dieser Last zu entziehen, und hätte es beinahe geschafft: Eine gute Universität in der australischen Stadt Perth war bereit, mich zum Promotionsstudium in der Geschichte des europäischen Mittelalters zuzulassen, meine Unterkunft zu finanzieren und mir eine Lehrassistentenstelle zu geben. Doch Ruth hatte wenig Lust auf den Umzug, und wir hatten schon einen Termin für die Hochzeit. Wären wir aufgebrochen zu jenen sonnigen Gestaden, zu den Biergläsern, die bereits um vier Uhr nachmittags vollgeschenkt werden, unser gemeinsames Schicksal hätte vielleicht anders ausgesehen. Doch ich kapitulierte. Suchte den Dekan auf und erklärte ihm, ich sei nun willens, mich vor den Karren der Erinnerung spannen zu lassen. Von da an wendete sich fast alles zum Positiven. Ich erhielt ein kleines Stipendium, gespendet von einer jüdischen Familie aus Amerika, das für unsere bescheidenen Bedürfnisse reichte. Ich begann Deutsch zu lernen und konnte nach einigen Monaten amtliche Schreiben der SS lesen und verstehen. Meine Sprachkenntnisse blieben rudimentär, nie habe ich mich an Heine oder Goethe versucht. Hingegen stürzte ich mich auf alle Bücher und Studien, die mir in die Hände fielen. Darin liegt meine Stärke: Ich kann in kurzer Zeit große Mengen an Material verdauen. Mich reizten vor allem die technischen Details der Vernichtung: der Verwaltungsapparat, das Personal, die Methode. Ich vertiefte mich mehr und mehr in die Materie, bis sich das Thema meiner Doktorarbeit abzeichnete und mein Doktorvater ihm zustimmte. Ich hatte meine Laufbahn eingeschlagen.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg lautete das Thema meiner Doktorarbeit, die ich nun anging. Ich stellte die Vernichtungsmethoden in den einzelnen Lagern nebeneinander – Chelmno, Belzec, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Auschwitz (natürlich unterschieden die letzten beiden sich darin, dass sie auch Arbeitslager waren, während die ersteren ausschließlich als Vernichtungslager dienten) – und zerlegte sie in ihre einzelnen Schritte. Ich prüfte unter dem Mikroskop des Historikers die jeweils gängigen Stadien, vom Aussteigen aus den Eisenbahnwagen über das Auskleiden und das Einsammeln der Kleidungs- und Gepäckstücke, die Täuschungsmanöver, die die Deutschen vollführten, um die Opfermassen zu beruhigen, das Abscheren des Kopfhaars, den Marsch zu den Gaskammern, die Konstruktion dieser Kammern und die Art des verwendeten Gases, die Vorgehensweise beim Einlassen der Menschen in die Kammern, die Wartezeit, das Ziehen der Goldzähne und die Suche nach Wertgegenständen in den Körperhöhlen bis hin zur Entsorgung der Leichen und der Personaleinteilung für die einzelnen Stationen etc., wobei ich jeweils Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeitete. Selbstverständlich gab es auch hier, in jedem dieser Stadien, unzählige Variationen und Abweichungen in den Details. Ich las Hunderte, wenn nicht Tausende von Büchern und Zeugnissen über das Leben und Sterben in den Lagern, vertiefte mich nach besten Kräften in Originalquellen, um bisher ungeklärte Einzelheiten zu verifizieren. Durch die Fülle des einschlägigen Materials navigierte ich bald mit sicherer Hand. Die Programmablaufpläne verzweigten sich zusehends, aber ich verlor nie den Überblick. Zunächst ordnete ich sorgfältig die Fakten, Ruth half mir, spezifische Vergleichsdateien zu erstellen, und dann ging ich der akademischen Frage nach, warum es gewisse Variationen in den Arbeitsmethoden gab und keine völlige Einheitlichkeit, wie nach der Art der Organisation und Aufgabe zu vermuten gewesen wäre.
Originaltitel: Mifletzet HaSikaron
Aus dem Hebräischen
von
Ruth Achlama
Format:
11.6 x 18.5 cm, 176 Seiten
ISBN: 978-3-0369-6107-1