Am Ende des Romans steht eine Eskalation: ein Faustschlag, mit dem ein Tourguide in Treblinka einen Dokumentarfilmer niederstreckt. Doch wie konnte es dazu kommen? In einem Bericht an seinen ehemaligen Chef schildert der Mann, wie die Menschen, die er jahrelang durch NS-Gedenkstätten führte, mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Er fragt nach der Verbindung zwischen Juden damals und Israelis heute, nach Machtverherrlichung und danach, was Menschen zu Mördern macht. Und er beobachtet Schülergruppen, die sich in Fahnen hüllen, scheinheilige Minister oder manipulative Künstler, er beobachtet, wie ein jeder in dem Grauen der Geschichte vor allem eines zu erkennen meint: einen Nutzen für sich selbst.
Yishai Sarid, einer der bekanntesten Autoren Israels, wirft in seinem Roman ein neues Licht auf die Erinnerungskultur, wagt sich an vermeintlich unantastbare Fragen und stellt in stillem, unaufgeregtem Ton eingefahrene Denkmuster infrage.
Er starrte auf die Wand der Toilette. Sie war von einem appetitlichen Honig-Vanille-Gelb, und die Größe der einzelnen Kacheln erinnerte an quadratisch geschnittene Karamellbonbons. Bei einer Institutsfeier war er derart betrunken gewesen, dass er daran geleckt hatte, er erinnerte sich an den ätzenden Hauch von Putzmittel auf der Zunge. Jetzt war er nicht betrunken, nur erschöpft. Nicht zuletzt von der Frage, die sich seit Tagen in seinem Kopf festgekrallt hatte: Verwandelte sich etwa jede Hausfrau früher oder später aus Frust in eine perfektionistische Furie? Oder hatte er bloß zu viel schlechtes Fernsehen geschaut? Yann und Gerda liebten Sendungen mit Auswanderern oder Hausfrauen. Sie liebten es, Menschen dabei zuzuschauen, wie sie ohne Geld, Sprachkenntnisse oder irgendeine andere Fähigkeit alles aufgaben, nur weil sie zu sehr träumten. Von einem Strand, einer eigenen Bar, endlich mehr Zeit, endlich neuen Tattoos. Meist war Mallorca ihr Ziel. Und nach ein paar Monaten mussten sie verschuldet, desillusioniert und tätowiert zurück in eine alte Heimat ohne weiteren Ausweg. Trotzdem hatten sie etwas gewagt. Wenn auch das Falsche. Die Welt der Fernseh-Hausfrauen war traumlos und schlicht. Sie unterstützten ihre Töchter bei der Wahl des Hochzeitskleides oder verausgabten sich im Wettbewerb um die schönste Torte. Sie waren unausgefüllte Bestien der Biederkeit und entschädigten sich mit maßloser Pedanterie. Gerda war eine Hausfrau. Yann fragte sich, ob er daran schuld war. Ob er seine Unterschrift zu voreilig unter den Mietvertrag für das Haus gesetzt hatte. Ob er Gerda ins Hausfrauendasein hineingetrieben hatte. Schnell drückte er die Toilettenspülung und versuchte, die Frage zu entsorgen. Aber konnte man eine Frau, die nichts anderes tat, als sich mit dem eigenen Haus zu beschäftigen, etwa nicht als Hausfrau bezeichnen? Und wie kam er auf die Idee, Gerda sei frustriert? Vielleicht war sie ja glücklich. Ihm war, als würden seine Gedanken Lärm machen. Sich durch die Tür der Toilette fräsen und kreischend in dem gelb gekachelten Raum kreisen. Sich im ganzen Institut verbreiten, bis alle wüssten: Yanns Frau macht keinen unbezahlten Urlaub, wie sie behauptet, Yanns Frau ist in Wirklichkeit arbeitslos, und weil sie für den Arbeitsmarkt nicht taugt, ist sie jetzt eben Hausfrau. Yanns Frau macht nichts, als seine Socken zu waschen, für ihn zu kochen, das Haus zu putzen, seinen Abfall und ihre Wünsche zu beseitigen. In Ermangelung von Sinnvollerem. Hoffentlich wird sie bald schwanger, würden sich seine Institutskollegen denken, dann hätte sie wenigstens ein Kind. Dann könnte sie sich wenigstens als Mutter und Hausfrau bezeichnen. Und wenn sie es schon jetzt dachten? Egal. Er liebte Gerda. Keinen Tag hatte er in den drei Jahren ihrer Beziehung daran gezweifelt. Sie war noch immer die bezauberndste Frau, die sich jemals in sein Leben verirrt hatte, ein Rätsel, doch ein lichtes Rätsel, nicht ganz durchschaubar, aber grundsätzlich von dieser sonnigen Unbeschwertheit, die junge Floristinnen oder Cafébesitzerinnen in romantischen Filmen ausstrahlten. Er war überzeugt, dass ihre Erwerbslosigkeit bald vorübergehen würde, weil er sie für geschickt hielt, für kompetent, wenn er eine entsprechende Stelle zu vergeben hätte, Gerda würde sie bekommen. Und obwohl sie schon ohne Job gewesen war, als sie im Sommer aus der Innenstadt in das Haus am Stadtrand gezogen waren, hatte er daran geglaubt, dass ihr Glück nun wachsen könne. Ein Glück so groß wie ein Haus, hatte er sich vorgestellt, dabei hatte das Haus genauso viele Quadratmeter wie seine alte Wohnung, nämlich zweiundachtzig. Auf zwei Stockwerke verteilt. Ein süßes kleines Haus, das letzte in einer von zwölf Reihen mit je acht Häusern. Eins von sechsundneunzig Häusern also. Wer zu Geld gekommen war, kaufte sich jetzt eins dieser alten Arbeiterhäuser, man konnte sich darin eins fühlen mit den Familien, die früher hier gewohnt hatten, den Fabrikarbeitern aus Italien, deren Kinder die Gärten und die gelben Kieswege belebt und mit Holzreifen und Bällen gespielt hatten. Jedenfalls stellte Yann sich dies gerne vor, denn das taten Arbeiterkinder doch immer auf alten Fotos. So ein Haus war eine Oase, nicht nur, weil das Grün und der Fluss nahe lagen, sondern auch eine Oase der Erinnerung an eine Zeit voller Genügsamkeit und Bescheidenheit. Die neuen Hausbesitzer richteten ihre Küchen mit handgefertigten Kacheln aus Portugal und Küchenzeilen aus England ein, und in den Gärten entstanden riesige Plateaus aus Echtholzbalken, schließlich konnte man einen dänischen Designerstuhl nicht einfach ins Gras stellen. In Gemüserabatten, die von Gartenarchitekten angelegt wurden, wuchsen ausschließlich vom Aussterben bedrohte Tomaten, weißbäuchige Auberginen und winzige, aromatische Kartoffeln, die aussahen wie altmodische Kommas. Gerdas Komma-Kartoffeln würden gewiss die schönsten, obwohl sie das Beet selbst ausgesteckt und keine Ahnung von der gartentechnisch so unverzichtbaren Grundlagenforschung zur optimalen Sonneneinstrahlung hatte. Gerda war die virtuoseste Hausfrau, die er kannte. Als er am Morgen zur Arbeit aufgebrochen war, hatte sie im Wohnzimmer vor einer Ecke gestanden und gesagt: »Das ist ja nicht zum Aushalten! « »Wie, nicht zum Aushalten?«, hatte er gefragt. »So Feng- Shui-mäßig?« »Das vielleicht auch, aber die Raumproportionen stimmen nicht, da muss irgendwas hin, und zwar exakt auf dieser Höhe.« Sie zog mit ihrer Handkannte eine Linie von ihrem Schlüsselbein zur Wand. »Ist das nicht zu tief für ein Bild?« »Davon verstehst du nichts, geh Geld machen.« Wenn er am Abend nach Hause kam, würde sich der Raum kaum wahrnehmbar verändert haben, sie hätte eine Wand leicht anders gestrichen, etwas aufgehängt, einen Tapetenstreifen geklebt, alles wäre stimmiger, anmutiger, aufregender. Und ohne es zu wollen, dachte er: Das also war es, was Großvater früher meinte, als er vom Feierabend schwärmte. Vom Heimkommen. Trotzdem hätte er zu gern gewusst, was in ihr vorging, wenn sie sich stur vor eine Wand stellte oder wenn ihr über einem seiner vielen kleinen Häufchen – aus Zeitungsartikeln, Büchern, Sitzungspapieren – fast die Tränen kamen. Ob das vielleicht der Anfang einer Depression war? Er ließ sie dann lieber in Ruhe, sie dekorierte die Wand, verschob das Häufchen und wurde wieder zur normalen Gerda, die im Haus so viel Beschäftigung fand, dass sie sich keine Sorgen über ihre Lage machte. Wobei die Lage ja gar keine war. Er verdiente genug, und das Haus schien Gerdas Berufung zu sein. Es war bloß kein Modell, das man jetzt, nach rund einem Fünftel des einundzwanzigsten Jahrhunderts, noch zu vertreten wagte. Er erinnerte sich sehr gut: Ein uralter Onkel hatte seiner Schwester zu ihrem achten Geburtstag einen Schal mit Ponys drauf geschenkt, die Schwester hatte sich gefreut und den Schal auseinander- und wieder zusammengefaltet, immer wieder, und der Onkel hatte gesagt: »Man muss den Weibern einfach was zum Aufräumen geben, damit sie zufrieden sind.« Er hatte sich für den Onkel geschämt und sich neben seine Schwester gekniet und mit ihr den Schal minutenlang auf- und zugefaltet. Aber was, wenn der Onkel recht hatte? Nicht richtig recht natürlich, aber in Spurenelementen? Yann war ein guter Mann, das nahm er für sich in Anspruch. Er war monogam, auch im Kopf, hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, bezahlte noch immer Kirchensteuer, um seiner Familie einen Gefallen zu tun, und unterstützte die Frauenquote. Er aß am liebsten Gerichte aus Ländern, die an Meere grenzten, schaute gerne skandinavische Serien und mochte alle Bücher von Haruki Murakami. Ikea fand er gut wegen der witzigen Werbung, H & M dagegen schlecht wegen der sexistischen Kampagnen und der Kinderarbeit. Trotz der gefährdeten Vögel befürwortete er die Windenergie. Die Vögel mussten sich eben wie jedes Lebewesen an die Windräder gewöhnen, die waren ja nicht dumm. Der Fortschritt kam schließlich auch ihnen zugute. Als Sohn eines Eisenwarenhändlers unterstützte er den Einzelhandel und das Handwerk. Er bewunderte Bauern und Bauarbeiter, aber nicht in einem konservativen Sinn. Viele dachten ähnlich wie er. Yann war achtunddreißig. Er fühlte sich grundsätzlich unschuldig. Irgendwann wollte er Kinder. Doch diese Entscheidung würde am Ende nicht bei ihm liegen, sondern bei Gerda. Ein wenig hoffte er, dass sie den aktuellen Zeitpunkt für günstig hielt. Er wollte kein alter Vater werden. Aber wenn sie sich lieber in ihrem Job verwirklichte, würde er ihr nicht im Weg stehen. Falls sie denn wieder einen Job finden würde. Woran er nicht zweifelte. Die Notlüge mit Gerdas unbezahltem Urlaub war seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen gegenüber unvermeidbar gewesen. Schließlich stand Yann für die Auflösung dessen, was Gerda gerade lebte. Eine Frau, vom Ernährer ausgehalten im Haushalt. Vor Kurzem hatte er seine Eltern gefragt, was denn das Geheimnis ihrer stabilen, jahrzehntelangen Ehe sei. Der Vater hatte nichts geantwortet und zur Mutter geschaut, und diese hatte in einer ihrer blumigen Reden Zuflucht gesucht, bei denen Yann sich nie ganz sicher war, wie viel tatsächlich der gelebten Wahrheit und wie viel den Wünschen seiner Mutter entsprach. »Eine Beziehung«, hatte sie gesagt, »ist wie eine Bibliothek voller Romane. Die einen sind Meisterwerke, die andern nicht, die einen sind leichter, die andern schwerer. Das sammelt und stapelt sich mit den Jahren, bei manchen hast du Lust, noch einmal darin zu blättern, und andere schmeißt du weg, weil du sie schon viel zu gut kennst und nicht mehr lesen magst.« »Welchen hast du zuletzt weggeschmissen?«, wollte Yann wissen. »Frag nicht«, sagte die Mutter und schwieg. Natürlich hätte er es viel zu gerne gewusst.