Pause!

MITTAGSPAUSE

Mit den Kollegen in die Kantine gehen, eine Runde durch den Park spazieren oder die Beine von einem Stahlträger in schwindelerregenden 250 Metern Höhe über der Skyline von New York baumeln lassen, wie es die elf Bauarbeiter auf der berühmten Fotografie Lunch atop a skyscraper tun – es gibt unendlich viele Möglichkeiten, seine Mittagspause zu verbringen. Vor lauter Stress und Druck einfach vor dem Rechner sitzen zu bleiben und bei läufig ein belegtes Brötchen in sich hineinzustopfen gehört sicher zu den schlechtesten. Manche Firmen versuchen deshalb, ihre Mitarbeiter zu einer »aktiven Pause« zu motivieren, und bieten Sport, Gymnastik, Yoga oder Meditationsübungen an. Andere propagieren power napping, ein kurzes effektives Mittagsschläfchen, für das mein Lieblingsonkel Hans sich im Pausenraum auf der Bank lang machte, den Kopf auf die Brotdose bettete und ein tiefes Nickerchen einlegte, bis die Fabriksirene ihn und seine Kollegen wieder aufscheuchte. Für vergleichbare Auszeiten werden in Hongkong, wo die Arbeitszeiten und -wege lang sind und es kaum 17 Rückzugsorte für erholsame Pausen gibt, von sogenannten Kapselhotels für eine zwei Quadratmeter kleine Nische siebzehn Euro kassiert. Immerhin ist oft ein simulierter Sonnenuntergang als Einschlafhilfe inklusive. Regeneration hat in unserer Leistungsgesellschaft einen Wert, den man sich auch leisten können muss. Historisch gesehen handelt es sich bei der Unterbrechung der Arbeitszeit zur kurzfristigen Erholung und Wiederherstellung der Arbeitskraft um eine relativ neue Errungenschaft. Vor der Industrialisierung waren Arbeit und Freizeit eng verbunden, und Jahreszeiten, Wetter oder Arbeitsaufkommen gaben den Takt vor. In der Landwirtschaft wurde im Sommer länger als im Winter gearbeitet, Handwerker hatten ihren blauen Montag, an kirchlichen Feiertagen und sonntags legten alle Pausen ein.

Das änderte sich mit Beginn der Industrialisierung. Die Menschen in den Fabriken arbeiteten vierzehn bis sechzehn Stunden, selbstverständlich ohne Pause. 1839 legte ein preußisches Landesregulativ mit königlicher Zustimmung fest, Kindern bei zehn Stunden Arbeitszeit eine anderthalbstündige Pause zuzugestehen. Dass sie auch eingehalten wurde, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Es ist den Gewerkschaften zu verdanken, dass die Arbeitszeit insgesamt kürzer und das Recht auf regelmäßige Pausen eingeführt wurde. Die erste Pausenregelung in einem Tarifvertrag erreichte der Verband der Deutschen Buchdrucker 1873: »Die tägliche Arbeitszeit ist eine zehnstündige, incl. einer Viertelstunde Frühstück und einer Viertel stunde Vesper«, heißt es darin. Heute schreibt das Arbeitszeitgesetz von 1994 genau vor, welche Ruhepausen an einem Arbeitstag mindestens vorgesehen sind, und es kommen – je nach Branche – diverse Extrapausen hinzu, wie die sogenannte »Bildschirmpause« oder die »Steinkühlerpause«, die den Akkordarbeitern in der Metallindustrie fünf zusätzliche freie Minuten bescherte. Verschiedene Tätigkeiten bringen eben unterschiedliche Pausenregelungen und -rituale hervor und – andere Länder, andere Pausensitten. So haben die Schweden ihre geheiligte Kaffeepause (siehe Fika, S. 75), die Franzosen lieben eine ausgedehnte Mittagspause, in England gibt es gegen elf Uhr die legendäre cup of tea, während sich Chinesen und Japaner bei einer Schale grünem Tee erholen. Und in Spanien wurde erst kürzlich für die Brötchenpause, die als zweites Frühstück um halb zwölf eingelegt wird, gestreikt.

Ganz gleich, wie kurz oder lang eine Pause ist, wir sollten sie genießen und hin und wieder so verbringen, wie Robert Walser sie in dem kurzen Prosastück Mittagspause beschreibt: An einem heißen Sommertag liegt der Erzähler unterm Apfelbaum im Gras, lässt sich Wünsche durch den Kopf gehen und träumt von einem »süssen Himmelskuss«. Zwar macht er sich nur »ungern auf die Beine, um die Wiese, den Baum, den Wind und den schönen Traum zu verlassen«. Aber schließlich springt er doch zurück in sein »trockenes Bureau« und arbeitet »hübsch fleißig bis an den Feierabend«, erfrischt von der traumhaften Eingebung und der Erkenntnis, dass »in der Welt alles, was das Gemüt bezaubert und die Seele beglückt, seine Grenze [hat], wie ja auch, was uns Angst macht und Unbehagen einflößt, glücklicherweise begrenzt ist«.

SOMMERPAUSE

»Es war dieser eine Sommer, wie es ihn wahrscheinlich nur einmal im Leben gibt. Dieser eine Sommer, den hoffentlich jeder hatte; dieser eine Sommer, in dem sich alles ändert.«

Ewald Arenz

Wenn das Parlament in die Sommerpause geht, geben Spitzenpolitiker entweder vor entspannter Außenkulisse Sommerinterviews oder sie werden von findigen Paparazzi beim Wandern ertappt: Olaf Scholz streunt mit Gattin durchs Ostallgäu, seine Vorgängerin Angela Merkel urlaubte mit Professor Sauer in Südtirol oder auf Ischia, nicht zu vergessen Helmut Kohls alljährliche Reisen nach St. Gilgen am Wolfgangsee. Die sind schon allein deshalb in die Geschichtsbücher eingegangen, weil der einzigartige Künstler Christoph Schlingensief im Wahljahr 1998 mit seiner Partei »Chance 2000 – Scheitern als Chance« dem damaligen Kanzler an seinen Ferienort St. Gilgen gefolgt war und sechs Millionen Arbeitslose eingeladen hatte, durch eine gemeinsame Badeaktion den See zum Überlaufen zu bringen. Auch wenn das nicht ganz geklappt hat, ist »Baden im Wolfgangsee« sicher in puncto kunstvoller Spaß und mediale Wirksamkeit ein unerreichter Sommerlochhit. Denn Sommerpause und Sommerloch sind untrennbar miteinander verbunden, sozusagen Schwestern im Geiste: Kaum beginnt die Pause, tut sich unmittelbar das dazu gehörige Loch auf und bietet echten Künstlern wie Schlingensief, Lebenskünstlern und vor allem Tieren eine einmalige Bühne. Da die Politiker wandern sind, Schüler und ihre sonst arbeitenden Eltern in den Ferien weilen, hätten eigentlich auch die Journalisten frei. Seiten und Sendungen wollen aber weiter gefüllt sein, und so durfte 2010 Tintenfisch Paul aus dem Oberhausener Sealife-Aquarium vorhersagen, wer die WM gewinnen wird. 1994 legte »Sammy« die Nerven der Dormagener Bevölkerung blank, weil Baggerseebesucher den Kaiman für ein überdimensioniertes Krokodil hielten. In Mönchengladbach soll der Riesenwels Kuno 2001 aus dem Volksgartenweiher heraus einen Dackel samt Halsband verspeist haben, was aber genauso unbewiesen ist wie die Existenz von »Nessi«, dem Sommerloch-Klassiker aus dem schottischen Loch Ness. 2022 hielt ein freihüpfendes Känguru die Menschen im Kreis Heinsberg auf Trab. Im Sommerloch ist also richtig was los, was auch gut ist, schließlich hat die Bundesliga Spielpause und auch beim Tatort laufen ausschließlich Wiederholungen. Ein Pausenloch hat eben auch die Funktion, die Vorfreude auf all das zu wecken, was einem ohne Unterbrechungen noch viel langweiliger vorkäme, als es ohnehin schon ist. Vom Prinzip her wäre ununterbrochen Fußball, Tatort oder Politik fast wie die Sache mit der Unsterblichkeit, die sich auch kein Mensch ernsthaft wünschen kann. Außer er oder sie ist fünfzehn oder sechzehn, steckt noch mit einem Bein in der Pubertät, hängt mit dem anderen irgendwo in der Luft und erlebt gerade, dass nicht nur schnelles Laufen oder schlechte Noten das Herz höherschlagen lassen, sondern auch Mädchen in grünen Badeanzügen. So geht es Frieder in Ewald Arenz’ Roman Der große Sommer, der ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie ergiebig das Sommerloch-Phänomen in literarischer Hinsicht ist. Die offene, unbestimmte Zeit kurz vor dem Ende der Schulzeit, wenn die Kindheit eigentlich schon zu Ende ist, man aber noch an einem seidenen Faden darin festhängt, weil das »Danach« noch nicht losgeht, der Übergang ins Erwachsenenleben noch nicht vollzogen ist. Ob Ewald Arenz’ Der große Sommer, Benedict Wells’ Hard Land, Wolfgang Herrndorfs Tschick oder Carson McCullers’ Klassiker Frankie – die Sommerferien mit ihrer aufgeheizten Langeweile sind die ideale Jahreszeit des Coming-of-Age-Romans. Denn gerade weil keine Schulstunden den Takt vorgeben und die Zeit auf einmal nach allen Seiten hin offen ist, kann das Unerwartete und Undenkbare geschehen: Der erste Kuss, die erste Liebe und all das Kribbeln und Bangen, das dazu gehört und das sich ohne den leeren Raum, der sich gegen Ende der Schulzeit auftut, nicht in dieser Intensität hätte ereignen können.