Sätze über Sätze

A WIE ANFANG

Vor jedem Anfang war ein anderer → Anfang. Vor allen anderen Anfängen befände sich der absolute Anfang, der Anfang aller Anfänge. Ein solcher Anfang wäre nicht der Anfang von etwas, also beispielsweise der Anfang eines Fußballspiels, der Anfang eines guten Tages, eines Buches über → Sätze oder eines Absatzes über den Anfang, sondern der Anfang, auf den alle Anfänge folgen. Dieser Anfang mit überdimensionalem A wäre, metaphysisch betrachtet, der einzig wahre Anfang. Doch wäre er ein Anfang ohne Ende, ein Anfangen, das nie aufhört, ein ewiges Anfangen. Und ein ewiges Anfangen fängt nichts an. Der absolute Anfang ist zugleich notwendig und unmöglich, zugleich der Anfang und das Ende alles Anfangens

B WIE BEWUSSTSEIN  

Bewusstsein ist jenes menschliche (→ Geist) Phänomen, bei dem Sprache und Sache am drastischsten auseinanderfallen. Wir schreiben es uns selbst und anderen Lebewesen zu, wissen aber nicht wirklich, wovon wir eigentlich reden. Das Wort »Bewusstsein« ist eines jener unübersetzbaren Wörter der deutschen Sprache, das eine urphilosophische Geschichte hat. Philosophisch unmusikalische Menschen interessiert nicht im Geringsten, was damit gemeint sein könnte. Philosophen hingegen streiten sich darüber, ob es überhaupt etwas meint. Man könnte sagen: Bewusstsein ist etwas, mit dem wir nur vertraut sein können, wenn wir besonders kompetente Benutzer des Wortes »Bewusstsein« sind. Zugleich scheint das Bewusstsein etwas zu sein, mit dem wir vertraut sind, noch bevor wir zu sprechen → anfangen. Das scheinbar Selbstverständliche, das wir dadurch kennen, dass wir es sind, nämlich bewusst, kennen wir nicht, wenn wir es ergründen. Das Offensichtlichste bleibt das Geheimnisvollste.

C WIE CHAOS

Nach der landläufigen Meinung (→ meinen) ist Chaos Unordnung. Der Erste, der das Wort verwendet, ist Hesiod. Er gebraucht es in seiner Theogonie, wo es nicht Unordnung oder die Abwesenheit von Ordnung bezeichnet, sondern das Aufgehen eines Raumes. Es kommt von altgriechisch chaínein, gähnen. Chaos ist das, was die Griechen sahen, wenn sie einem Sonnenaufgang beiwohnten: Der Horizont ist der gähnende Hals. Die Gottheit gähnt. Das Gähnen des Gottes zeigt sich im Horizont. Im gähnenden Schlund, der sich auftut, findet alles statt. Chaos ist mithin der Raum der menschlichen Ordnung. Was im Chaos erscheint, ist sozusagen das laute Gähnen der Gottheit. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es einen Raum der Ordnung, der nicht selbst Teil der Ordnung ist. Oder es gibt keinen solchen Raum der Ordnung, der nicht Teil der Ordnung ist. Gäbe es ihn nicht, gäbe es auch keine Ordnung, weil die Ordnung raumlos wäre. Also gibt es tatsächlich eine Unordnung des Raums. Aber sie ist nicht mit dem Unordentlichen zu verwechseln. Die Unordnung, die nicht vom Wesen der Ordnung ist, mit dem Unordentlichen gleichzusetzen, ist der Fehler der Modernen. Darum haben sie die landläufige Meinung geprägt, Chaos sei Unordnung.

D WIE DENKEN

Gedanken sind Formationen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie → wahr oder falsch sein können. Durch Gedanken sind wir in der Lage, etwas zu erkennen. Denken ist ein dem Urteilen vorgelagertes Fassen von Gedanken. Dieses Fassen ist selbst nie ein Gedanke. Man fasst das Denken nicht als Gedanken. Denn dann fasst man nur einen weiteren Gedanken, hinter dem ein Denken steht, das man auf diese Weise verfehlt. Man kann sich nicht beim Denken zuschauen. Ein solches Zudenken ist unmöglich. Zugleich bleibt es wahr, dass sich das Denken auf sich selbst richtet. Es ist der Sinn der Selbstbezüglichkeit, der alle anderen Sinne umfasst oder umhüllt. Wenn wir sehen, hören, fühlen, tasten, riechen oder schmecken, denken wir. Ich verspüre Schmerzen im Mund – ich habe Zahnschmerzen, das heißt: Ich fasse den Gedanken des Schmerzes. Empfindung und Gedanken sind untrennbar miteinander verbunden. Im Versuch, sich selbst zu fassen, entgleitet jedoch das Denken sich selbst. Denken ist der kreisende Gang zum Grund, der selbst gedankenlos ist.