Wie lernt man zu töten, ohne daran zu zerbrechen? Als Psychologin berät Abigail seit Jahren erfolgreich das israelische Militär, wie es Soldaten besser auf Einsätze vorbereitet. Doch dann wird ihr einziger Sohn Schauli einberufen, und sie muss sich entscheiden: Was wiegt schwerer, das Wohl ihres Landes oder das ihres Kindes?
1.
Am Ende wird er mich rufen lassen, wenn die Feiern vorbei sind. Warte zehn Tage, höchstens zwei Wochen – die Einladung wird kommen. Ich hatte die feierliche Amtseinführung in den Nachrichten gesehen, mit Ehrengarde und Dienstgradverleihung und Militärkapelle. Er hätte mich dazu einladen können, dachte ich, verstand aber auch, warum er es nicht getan hatte. Der Anruf von seinem Büro traf zwei Wochen und zwei Tage später ein. Der Generalstabschef möchte dich treffen. Klar, sagte ich, Rosolio ruft, und ich bin zur Stelle. Meine Zutrittsgenehmigung war bereits abgelaufen, und so musste ich am Eingang lange warten. Ich zeigte den Wächtern meinen Dienstausweis als Oberstleutnant der Reserve, aber sie hielten sich streng an die Vorschriften. Danach erreichte ich das Büro etwas außer Atem, leicht verschwitzt und nicht so frisch wie geplant, aber auf die Minute pünktlich, schließlich war ich noch nirgends zu spät gekommen. »Einen Moment«, sagte die Stabssekretärin. Ihr eifersüchtiger Blick missfiel mir auf Anhieb. »Nimm bitte Platz.« Sie deutete auf ein paar Stühle in der Ecke und ließ mich warten. Erst als eine Gruppe beleibter Männer in hellblauen Zivilhemden aus dem Zimmer kam, fand sie sich bereit, ihm mein Eintreffen zu melden. Einige Sekunden vergingen, dann stand Rosolio in der Tür, geschmückt mit den höchsten Rangabzeichen, und mir stockte der Atem. »Abigail«, sagte er. »Jawohl, Chef«, erwiderte ich – war mir blöderweise rausgerutscht – und strahlte ihn mit meinem breitesten Lächeln an. Tatsächlich war ich mächtig stolz, als wäre er mein großer Bruder, oder mein fester Freund. Schon bei unserer ersten Begegnung vor fünfundzwanzig Jahren, bei einer Übung seines Bataillons auf den Golanhöhen, hatte ich vorausgesehen, dass er dieses Amt einmal erreichen würde, so er nicht vorher umkam. Er war nicht gestorben, hatte sein Ziel heil und gesund erreicht, allerdings Jahre später als gedacht. Die alten Bilder überfluteten mich. Ich geriet in Erregung. Er hatte zugenommen, aber sein guter Duft war nicht verflogen, auch nicht sein männliches Flair unter Uniform und Dienstgrad, und seine Augen hatten noch den klugen Blick, der mich mehr als alles Körperliche angezogen hatte. Er freute sich über mein Kommen. »Tritt ein, Abigail, bitte schön«, lud er mich mit großer Geste ein und setzte sich hinter den Tisch, an dem schicksalhafte Entscheidungen fielen. Auf dem Tisch stand ein gerahmtes Bild seiner Frau und Töchter. Er hatte es vor meinem Eintreffen nicht eigens versteckt. »Wie gehts dir?«, fragte ich. Ich erkannte Stresssymptome um seine müden Augen und an seiner Kopf- und Schulterhaltung, bemerkte die abgekauten Fingernägel. »Na, du siehst ja«, sagte er lachend, »es gibt viel Arbeit zu erledigen, viele Dinge zu ändern.« Seine Ausdrucksweise war seit jeher etwas hölzern, und ich musste in ihn dringen, um die Spuren der Empfindsamkeit zu finden. Hinter seinem Kopf hing die berühmte topografische Karte des Nahen Ostens, und er wirkte einsam. Ich wollte zu ihm treten, ihn anfassen, ihm die steifen Schultern massieren, war aber nicht sicher, wie er reagieren würde. »Ich arbeite wie verrückt«, sagte er, »es ist eine enorme Verantwortung. Erst wenn man hier angelangt ist, kennt man ihr wahres Gewicht.« Ich fragte ihn, was er aß und wie viel er schlief. Über die Jahre hatte ich Rosolio in vielen Stresssituationen gesehen, wusste, dass er stark, aber nicht eisern war, nicht zu den raren Supermännern gehörte, die beim Militär nur alle ein oder zwei Generationen einmal auftauchten. Mehrmals hatte er mich vor einem Einsatz oder einer weitreichenden Entscheidung wirklich gebraucht. Dann musste ich seine Hand nehmen, ihm mit Worten versichern, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, ihn vor Zweifel und Verwirrung bewahren, vor der Angst, die mit der Opferung menschlichen Lebens verbunden ist. Rosolio war mutig, verlässlich und klug, verfiel aber zuweilen in Grübeleien, aus denen man ihn befreien musste, damit er loslegen konnte. Ich hatte mich für ihn schön gemacht, helles, kaum sichtbares Rouge aufgelegt, mich mit einem frühlingshaft frischen und jungen Duft parfümiert. Besonders fürchtete ich, ich könnte ihm alt erscheinen, mein Körper ihn anwidern, aber ich sah seinen Augen an, dass ich diese schlimme Grenze noch nicht überschritten hatte. Er fragte, wie das Zivilleben sei, ich antwortete, dass ich noch nicht vom Militär loskäme, vorwiegend langjährig Kriegstraumatisierte therapierte, in dem Ruf stände, ihnen wirklich helfen zu können. Ich erzählte ihm, ich würde immer noch Vorträge auf dem Fortbildungsstützpunkt für Stabs- und Kommandooffiziere halten und gelegentlich gebeten werden, einige Tage Reservedienst für Sonderaufgaben zu leisten. »Ich habe auch ein paar Zivilisten behandelt, brachte aber kaum Geduld für sie auf«, berichtete ich Rosolio. »Ihre kleinen Probleme haben mich gelangweilt. Ich konnte nur mit Mühe das Gähnen unterdrücken.« »Ein Glück, dass wir dich mit Arbeit versorgen«, erlaubte sich Rosolio zu scherzen, wurde jedoch gleich wieder ernst, als fürchtete er, jemand könnte ihn durch die Wand beobachten. »Wir haben vielen jungen Leuten das Leben kaputtgemacht«, sagte er und setzte kurz darauf hinzu: »Nicht immer war es die Sache wert.« »Mit solchen Gedanken solltest du dich jetzt nicht beschäftigen«, sagte ich. »Heb sie dir für den Ruhestand auf, wenn du deine Memoiren schreibst.« »Super, dass du gekommen bist, Abigail«, lachte er, »ich hatte schon Sehnsucht. Es ist lange her, dass mir jemand gesagt hat, was ich denken soll. Wir sind in die guten alten Zeiten zurückgekehrt.« Hinter all unseren Reden stand das, was wir nicht aussprechen konnten. Wir befanden uns im Büro des Generalstabschefs, die Landkarte des Nahen Ostens blickte auf uns herab, und es gab keinerlei Raum für Intimität. Rosolio kratzte sich am Nacken und sagte: »Ich habe dich rufen lassen, weil ich meine, du könntest helfen. Du hast immer einen besonderen Beitrag für die Truppe geleistet, hast nicht nur die Geschädigten im Hinterland behandelt, sondern uns geholfen vorzupreschen. Genau das möchte ich mit dieser ganzen Streitmacht machen. Mit ihr vorwärtsstürmen.« Hättest du das nicht etwas formeller?, dachte ich, sagte jedoch nur: »Klar, ich bin dabei, womit kann ich behilflich sein?« »Zu Luft und zu Wasser sind wir großartig – schnell, tüchtig, unbesiegt«, sagte Rosolio. »Dafür hapert es zu Lande, bei Bodengefechten, von Mann zu Mann. Dort töten und entführen sie uns, dort kommen wir nicht weiter. Wir haben feinsinnige Kinder, haben sie nicht zum Töten erzogen.« Jetzt konnte ich das Treffen einordnen: Dazu hatte er mich eingeladen, als Expertin für die Psychologie des Tötens. Ich schlug die Beine übereinander, saß aufrecht, trug das Haar im Nacken zusammengefasst wie immer. »Alles, was von fern per Knopfdruck geht, kommt ihnen natürlich vor«, erwiderte ich. »Von Weitem töten ist unproblematisch, wie ein Spiel. Aber der Nahkampf, das ist eine ganz andere Geschichte. Sie spielen ja kaum noch draußen, diese Kinder, prügeln sich nicht. Sie leben am Smartphone, alles nur symbolisch, die reale Welt existiert für sie fast nicht mehr. Manchmal denke ich, wir müssten ihnen erst mal beibringen, ein Huhn zu schlachten oder jemandem das Nasenbein einzuschlagen, ehe wir von ihnen erwarten, Menschen zu töten.« Rosolio lachte. »Kannst du dir vorstellen, was die Zeitungen über mich schreiben würden, wenn ich das Schlachten von Hühnern in die Ausbildung aufnehmen wollte?« »Sie vögeln auch nicht mehr«, sagte ich, »fassen einander kaum noch an.« »Ich habe nur Töchter«, erwiderte Rosolio, hielt verlegen inne und korrigierte sich dann: »Wir haben nur Töchter, deshalb stört mich das weniger.« Vor fünfundzwanzig Jahren hatte Rosolio mir vor seinem Bataillonsführerzelt türkischen Mokka gekocht, ehe wir uns über den Menschen als tötendes Wesen austauschten. Er wollte gern mit mir reden, obwohl ich eine zum Studium freigestellte junge Offizierin war, die noch nie ein Schlachtfeld gesehen hatte. Wie hatte mir das geschmeichelt. Auch jetzt wollte ich das Gespräch gern erweitern, ihn beeindrucken, ihm von neuen Studien ausländischer Militärpsychologen berichten, mit meinem Wissen glänzen, Berufserfahrung demonstrieren. Aber die Stabssekretärin klopfte an, entschuldigte sich vielmals und sagte, Rosolio müsse los zu einem Termin beim Minister, werde erwartet. Dabei streifte mich ihr argwöhnischer Blick. »Einen Moment noch«, sagte Rosolio und wartete, bis sie raus war. »Was ist mit dem Jungen?«, fragte er leise, fast flüsternd. Ich wusste nicht, ob alle Gespräche in seinem Büro aufgezeichnet wurden, nahm mich jedenfalls in Acht. »Rückt in ein paar Tagen ein«, berichtete ich, hätte nicht davon angefangen, wenn er nicht gefragt hätte. Es verletzte unser Abkommen. »Schon? Wohin?«, fragte er überrascht, sogar verlegen. Er hatte keine Ahnung, wie alt Schauli war. Ich sah ihm direkt in die Augen und antwortete: »Fallschirmjäger, wie du.« »Fallschirmjäger, wieso das denn? Wie ist das passiert? « »Das frage ich mich auch. Anscheinend habe ich ihn schlecht erzogen. Er hätte zum Nachrichtendienst gehen können, hat einen hellen Kopf. Oder zur Luftwaffe, wenn er unbedingt ein Held werden wollte, oder zur Marine, wo er doch dauernd am Strand rumhängt. Aber nein, er will zu den Fallschirmjägern. Ein altmodischer Junge. Als Einziger unter seinen Freunden. Er will ein Mann sein. Der Trick funktioniert bei ihm noch.« »Das kann kein Zufall sein. Hast du ihm von mir erzählt, irgendwas angedeutet?«, fragte Rosolio misstrauisch. »Nein.« Ich verzog das Gesicht, die Frage gefiel mir nicht.