Eben fühlte sich Olivia noch aufgehoben in der überwältigenden Magie des Meeres, als die Segelschifffahrt mit fünf gleichaltrigen Männern unvermittelt zum traumatischen Erlebnis wird. Ein wilder, aufwühlender, sprachgewaltiger Roman, der alle Sinne anspricht.
DUNKELROSA
»Es ist nicht romantisch, wenn du mit Ende zwanzig stirbst«, sagte er zu mir, seine Augen tiefschwarz, halb im Schatten. Er schüttelte den Kopf. »Das wäre eine solche Verschwendung.« Ich weiß noch, dass wir bei diesem Gespräch in meinem Wohnzimmer waren und dass ich ihm nichts darauf antwortete, aber ich dachte danach noch lange über seinen Satz nach, wobei das Wort Verschwendung in meinem Kopf Schlieren bildete wie ein Ölteppich. Mir war klar, dass er recht hatte. Natürlich war es eine Verschwendung. Doch es ging mir nicht um Romantik, als ich vorhersagte, dass ich mit Ende zwanzig sterben würde, auch nicht um die alte Geschichte von der jungen Künstlerin, die ein viel zu frühes Ende findet. Es war eher ein konkretes Wissen – das Wissen, dass meine Zeit gekommen war. Ich sterbe am Abend vor meinem Geburtstag, mit neunundzwanzig, fast dreißig Jahren. Mir hat die Zahl neunundzwanzig – zwei und neun – schon immer viel besser gefallen als dreißig – drei und null. Zwei ist rot und neun dunkelrosa; drei ist ein unangenehmes Grün und null ein leeres Weiß. Im Gegensatz zu dem, was ihr jetzt vielleicht denkt, sterbe ich jedoch nicht mit Absicht. Nicht wirklich. Andererseits womöglich doch. Unser Leben besteht aus einer Vielzahl von Entscheidungen. Ich zucke mit den Schultern. Fröstele. Es ist kalt hier auf dem nassen Achterdeck, am Übergang zwischen den letzten zehn Jahren und den nächsten. Unter mir ist es dunkel, Eisberge schweben im Grau. Alles dehnt sich aus. Ich blicke zu Brooke hinüber, und sie zwinkert, und ich lächle, und mein Gesicht schmerzt. Ich halte die Luft an. Ist Atmen eine bewusste Entscheidung? Ich weiß es nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Ich wünschte, du hättest mir so vieles gesagt. Zum Beispiel, dass es gleichermaßen erstaunlich und langweilig sein wird, wenn ich endlich das grüne Leuchten sehe. Oder dass das Leben eine Aneinanderreihung von Wörtern mit völlig falscher Interpunktion ist und dass jemand das Komma an der Stelle entfernt hat an der man Luft holen wollte sodass man, es stattdessen hier tun muss und wenn man es versäumt hat Pech gehabt Chance, verpasst. Maggie, ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Auf See hört niemand deine Schreie.
MEERESGARTEN
ROSE
Ich bin noch im Dazwischen gefangen und stelle mir vor, die Erde würde schaukeln. Alles bewegt sich vor und zurück, vor und zurück. Dann komme ich zu mir. Mein Kinn ist speichelverkrustet, und meine Zähne sind pelzig. Ich öffne mühsam meine verquollenen Augen und sehe ein kleines Fenster, nur ungef ähr einen Meter über meinem Kopf. Die Sonne schwingt am Himmel auf und ab, und mir geht auf, dass die Erde tatsächlich schaukelt. Ich stütze mich auf einen Ellbogen. Mein Kopf hämmert, als hätte mir jemand mit einem Ziegelstein eins übergezogen. Ich sehe mich um, und während meine Augen den Raum scharfstellen, warte ich darauf, dass endlich alles einen Sinn ergibt. Vergeblich. Die Wände sind gewölbt und ragen direkt links und rechts des Betts auf – wenn man es überhaupt ein Bett nennen kann. Ich liege auf einer hauchdünnen Matratze, eingezwängt zwischen einer riesigen Segeltuchtasche und einer Angelrute. Von draußen sind eigenartige dumpfe Schläge zu hören, und als ich den Kopf hebe, schwingt die Sonne immer noch auf und ab. Ich spüre, wie meine Brust eng wird, wie sich mein Brustkorb zusammenschnürt, als wäre ein Atemzug darin stecken geblieben und käme nicht mehr heraus. Wo um alles in der Welt bin ich? Ich bin angezogen, wenigstens das, trage ein Seidenkleid, meine Jeansjacke, zwei rosa Socken und einen Stiefel. Als ich eine Hand unter mein Kleid schiebe, ertaste ich Unterwäsche. Der Inhalt meiner Handtasche liegt um mein Kissen herum verteilt. Geldbeutel – vorhanden. Karten und Bargeld sind noch da. Mit zitternden Händen greife ich nach meinem Handy. Der Akku ist leer. »Scheiße «, murmele ich. Ich schlängle mich aus dem beengten Bett und finde meinen zweiten Stiefel auf dem Boden neben einem Eimer voller Schwämme. Auf unsicheren Beinen wanke ich aus dem Zimmer. Ich haue mir den Kopf an der Decke an. Welcher Idiot hat dieses Haus gebaut? Ich bin zwar groß, aber nicht so groß. Die Erde schaukelt immer noch, als ich in einen etwas größeren Raum mit Küchenzeile, Stockbetten, Fensterschlitzen und einem am Boden verschraubten Tisch stolpere. Ich taste mich hindurch, halte mich an Ecken und Kanten fest, um das Gleichgewicht zu halten, schleppe mich mühsam zu einer Leiter, die nach oben ins Freie führt. Oben angelangt brauchen meine Augen einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. »O Gott.« Mein Flüstern ist kaum hörbar. Vor mir sitzt ein alter Mann, der Ölzeug und eine orangefarbene Wollmütze trägt. Seine Haut ist wettergegerbt, salzverkrustet und mit Pigmentflecken übersät, sein Gesicht ziert ein zottiger weißer Bart. Hinter ihm sehe ich nur Meer, so weit ich blicke. Die Wasseroberfläche ist dunkel und aufgewühlt. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Der Horizont ist unendlich weit weg. »Morgen.« Ich starre ihn verständnislos an. Er lacht. »Wo bin ich?« »Was?«, fragt er. »Du musst lauter sprechen.« Er zeigt auf sein Ohr. »Bisschen taub.« »Wo bin ich?«, wiederhole ich lauter. »Du bist auf der Tasmansee.« Zu meinen Füßen sehe ich Taue, die um Metallstumpen gewickelt sind, Leinen, die zu einem vor mir aufragenden Mast führen. Der alte Mann zieht an einer Leine, woraufhin sich die Falten in dem über mir hängenden Segel glätten, wie Haut, die sich um einen Knochen strafft. Ich spüre, dass sich das Schiff kaum merklich aufbäumt. »Der was?« »Der Tasmansee«, antwortet er und zeigt auf die endlose Weite des Meeres, als müsste ich erkennen, worin sich dieses Gewässer von jedem anderen Gewässer unterscheidet. »Auf einer Segelyacht, falls du es noch genauer wissen willst«, fährt der alte Mann fort. Er legt eine Hand aufs Bootsdeck. »Und diese Segelyacht heißt Sea Rose.« Ich fühle mich, als würde mich jemand mit beiden Händen würgen, und einen Moment denke ich, dass ich mich übergeben muss. »Ich will sofort an Land.« »Kannst du auch. In ein paar Tagen … wenn wir in Neuseeland angekommen sind.« Das Blut weicht aus meinem Gesicht. »Was?!« »Ich überführe die Yacht nach Neuseeland und brauchte noch jemanden, der mir hilft. Du meintest, du würdest gern mitkommen.« »Das soll ein Witz sein, oder? Wann habe ich das gesagt?« »Gestern Abend.« Ich tauche wieder ein in die alkoholvernebelten Stunden der letzten Nacht und suche nach etwas, irgendetwas, das mir auf die Sprünge helfen könnte, finde jedoch nur ein klaffendes schwarzes Loch. »Warum haben Sie mein Gerede für bare Münze genommen? Ich war sturzbetrunken!« Das Schiff hebt sich über einer Welle und stürzt dann krachend nach unten. Mir dröhnt der Kopf, und ich schmecke Galle auf der Zunge. »Im Prinzip ist das eine Entführung.« »Eine was?« »Eine Entführung! Dafür wandern Sie in den Knast!« »Tja«, erwidert er und lehnt sich mit einem breiten Grinsen zurück. »Das würde voraussetzen, dass jemand davon erfährt … Ich werde dich wohl einfach umbringen müssen.« Ich mache einen halben Schritt nach hinten und stoße mit dem Fußknöchel gegen ein aufgerolltes Seil, falle rückwärts aufs Deck. Der Aufprall raubt mir die Luft. Der alte Mann bricht unvermittelt in Gelächter aus, und seine Augen verschwinden unter tiefen Falten. Zwischen zwei Lachsalven stößt er keuchend hervor: »Alles okay, Kleine?« Ich versuche etwas zu antworten, aber es gelingt mir nicht. »Wirf mal einen Blick über die Schulter«, sagt er. Ich rapple mich vom Boden auf, drehe mich um und sehe Land. Einen lang gestreckten Strand, versprengte, von Grün umgebene Häuser, eine felsige Landzunge, einen Leuchtturm … Den Leuchtturm kenne ich. Es ist der Barrenjoey-Leuchtturm. Sydney. Wir sind noch in Sydney. Ich wende mich wieder dem alten Mann zu. »Weißt du jetzt, wo wir sind?« Ich nicke. »Ich bin unterwegs zum Royal Prince Alfred Yacht Club in Newport. Muss meine Rose dort zur Reinigung vorbeibringen. Bei diesem Wind müssten wir in einer Stunde da sein. Ich fahre dich von dort zurück in die Stadt.« »Dass Sie jetzt auf ritterlich machen … ändert auch nichts …« Ich huste, bin immer noch atemlos von meinem Sturz. »Sie … haben mich entführt.« »Du warst völlig weggetreten, junge Dame. Konntest mir nicht mal deinen Namen nennen. Sollte ich dich etwa so nach Hause fahren lassen? Nein. Jane und ich mussten dich tragen, weil du nicht mehr laufen konntest.« »Wer ist Jane?« »Die Restaurantleiterin vom Cruising Yacht Club. Sie meinte, sie hätte dich auf der Damentoilette gefunden. Ich hab dich an Bord deinen Rausch ausschlafen lassen. Als ich dich heute Morgen weckte, um dir zu sagen, dass ich losmuss, sagtest du, ich solle dich in Ruhe lassen.« »Daran erinnere ich mich gar nicht.« Der kalte Wind packt von allen Seiten meinen Körper. Ich verschränke die Arme und versuche, irgendeine konkrete Erinnerung an die letzte Nacht auszugraben. »Und wo haben Sie geschlafen? « Er sieht mir in die Augen. »In meinem Bett«, antwortet er. »Bei mir zu Hause.« Er sagt es so ernst und mit derartiger Entschiedenheit, dass ich ihm tatsächlich glaube. Mit einem wehmütigen Lächeln versichert er: »Mach dir wegen mir mal keine Sorgen, Kleine. Ich habe immer nur eine einzige Frau geliebt.« Das Lächeln verschwindet, und er fixiert einen Punkt jenseits des Horizonts. »Und diese Frau gibt es nicht mehr.« Ich lockere die Verschränkung meiner Arme ein wenig. »Wie hieß sie?« Wieder legt er die Hand aufs Bootsdeck, streicht darüber, als würde er eine geliebte Frau liebkosen. »Robynne. Robynne Rose.« Er räuspert sich. »Wie auch immer. Ich hatte keineswegs vor, dich zu entführen, aber mein Termin in der Werft ist um zehn, und ich dachte, du würdest bis dahin sowieso schlafen.« Ich werde von Erleichterung überwältigt. »Echt gruselig, so aufzuwachen«, sage ich, schlurfe zu ihm und strecke die Hand aus. »Aber was solls? Ich bin Olivia.« Er gibt mir seine schwielige Lederpranke, und wir schütteln uns die Hände. »Mac.«