Wie Inseln im Licht

1

Als ich auftauche, hat das Wetter umgeschlagen. Das Wasser, das kurz zuvor noch glatt in seinem türkis gekachelten Becken gelegen hat, wird jetzt von einem kühlen Wind bewegt, genau wie die Palmenblätter, die dabei ein schnelles, schabendes Geräusch erzeugen.

In meinem nassen Badeanzug, die Schwimmbrille in der Hand, trete ich an das Geländer, das die Dachterrasse des Hotels umschließt. Vor zwanzig Jahren hat die Mutter diesen Ort mit mir verlassen, aber das Meer ist noch dasselbe, der Himmel, die Luft.

Vier Tage sind seit ihrem Tod vergangen, und seitdem ist meine Zeitrechnung eine andere. Meine Erinnerung an die letzten Tage ist nicht linear, da sind nur Szenen, die aufscheinen, wie Lichter auf einer bewegten Oberfläche. Plötzlich und ohne dass sie mir verbunden erscheinen. Die Fahrt mit dem Nachtzug von Berlin nach Bordeaux, dunkle Bahnhöfe, dunkle Orte, die an meinem Fenster vorbeiziehen, mein Körper, bewegt von diesem Zusammengriff aus Schienen und Rädern unter mir. Mein Handy im Dunkel, das mit Nachrichten von Ari aufleuchtet, das plötzliche Aufwachen, weil ein Zugteil an- oder abgekoppelt wird, der Halbschlafnebel, das Unverständnis darüber, wo ich bin, und vor allem: das schreckhafte Denken an die Mutter, die Augenblicke, in denen es mir scheint, als wäre sie noch am Leben, kurz dieser Stromstoß in meinem Körper, wann hat sie zuletzt getrunken, dann das Erinnern. Die Mutter braucht mich nicht mehr, und mir fehlt jede Vorstellung davon, was mit ihr passiert ist, seitdem der Bestatter sie abgeholt hat.

Ich stelle sie mir vor. Die Mutter, in irgendeinem anonymen Dunkel, der Saum ihres Kleids, die Fingernägel, bemehlt mit einer dünnen Schicht aus Eiskristallen. Der kleine Zweig, der auf ihrem Nachttischchen gestanden hat, ein letzter Gruß aus unserem gemeinsamen Leben, in ihren Händen auf der Brust, die Blüten und Blätter steif gefroren.

Sie ist nicht mehr da, und ich stehe oben auf dem Hotel und blicke auf das Meer. Es gibt ein Foto von Oda und mir an diesem Strand, die nackten Füße umspült von weißem Schaum. Das Licht, blass und violett über dem Atlantik, diesem endlosen Wasser zwischen den Kontinenten.

Wenn ich an Oda denke, dann liegt der Schmerz der Mutter wie ein Filter zwischen mir und meiner Erinnerung. Ihr Blick, der leer wurde und davonglitt, von dem ich wusste, auf welche Stunden er sich richtete: auf den Campingplatz, auf den kleinen warmen Körper meiner Schwester in unserer Mitte.

Wir sprachen nicht von ihr. Aber ich hörte meine Mutter oft nachts, wenn ich im anderen Zimmer lag. Hörte sie murmeln, hörte ihre offenen Fragen, hörte sie durch die dünne Wand.

Zwei Männer ziehen unten am Strand die grüne Flagge ein, das Signal für gefahrenfreies Baden, und hissen an ihrer Stelle ein großes rotes Stoffdreieck, das oben um den Mast schlägt. Das Fahrzeug der Strandwache hinterlässt im Auf- und Abfahren tiefe Furchen an der Wasserkante. Auf der Ladefläche steht ein Rettungsschwimmer. Er trägt eines dieser langen Frotteecapes, wie sie in Surfshops verkauft werden, das lange Haar offen, wellig, von der Sonne gebleicht.

Ein moderner Christus, denke ich, der mit seinem Megafon versucht, die kleine Gruppe zu lotsen, die noch auf ihren Surfbrettern im Meer treibt. Zwischen Englisch und Französisch wechselnd, ruft er ihnen über das Wasser zu, dass sie zurück an Land kommen sollen. Die Stimmung am Strand ist in kürzester Zeit gekippt. Eine Gefahr scheint plötzlich in der Luft zu liegen, eine Hast. Am Horizont verbindet sich das Wasser dunkel mit dem Himmel.

Die Trägheit dieses Sommertags, die ich zuvor durch mein Fenster beobachtet habe, morgens die Kinder auf dem Schulweg, ihre langen Schatten in der kühlen Morgensonne, dann die Alten, die ihre Einkaufstrolleys in den Ort zum Markt und später zurückziehen, dann wieder die Kinder. Am Strand die Menschen, die wie Eidechsen in der Sonne liegen, still und warm. All das ist etwas anderem gewichen, während ich meine Bahnen gezogen habe. Eine völlig falsche Vorstellung meiner Umwelt hat mich während des Schwimmens begleitet. Die ganze Zeit über glaubte ich den nachmittäglichen Strandalltag intakt, in seinen Details aus Obst in Tupperdosen, warmen Wasserflaschen und sandigen Kinderkörpern. Wie konnte ich verpassen, dass die Lichtreflexe am Grund des Beckens verschwunden sind, wie ist mir die veränderte Temperatur nicht aufgefallen, die Schatten, jedes Mal wenn ich das Gesicht gehoben habe, um Luft zu holen?

Ich habe ihn später als alle anderen wahrgenommen, diesen Umschwung, und daraus wächst das Gefühl, dass ich nicht wirklich Teil dieses Orts bin. Ich bin allein, hier an der Brüstung und zuvor am Fenster. Ich bin fremd. Ich komme aus einem Leben, von dem niemand an diesem Ort weiß.

Die Dachwohnung in Berlin, das Sterben der Mutter. Drei Jahre waren es, in denen alles andere nach und nach diesen Dingen gewichen ist. Ich denke an Tracey Emin. Die Stunden, die ich anfangs noch am Schreibtisch mit meiner Masterarbeit über sie und ihre Kunst verbracht habe, während nebenan die Mutter schlief oder fernsah. Der Stapel an Büchern und Bildbänden neben dem Bett.

Strangeland.

Detail of Love.

Tracey Emin: 2007–2017.

Wann habe ich aufgehört, Ausstellungen zu besuchen? Wann habe ich aufgehört zu schreiben, wann habe ich aufgehört zu lesen?

Ich denke an Tracey Emins nackten, gekrümmten Rücken auf dem Steg von Åsgårdstrand in einer Videoarbeit, die ich einmal in der Albertina in Wien gesehen habe. Das Licht, das um sie herum auf dem Meer liegt und mit den Wellen zuckt, und dann, plötzlich, ihr Schrei, der nicht mehr abzubrechen scheint.

Eigentlich kann man Tracey Emins Arbeit nur dann verstehen, wenn man von ihrer Faszination für Edvard Munch weiß, ihr biografisches Leid parallel zu seinem sieht. Ich habe gelesen, dass Tracey Emin einmal gesagt hat, sie wäre gern eine Mutter für Munch gewesen, weil er seine bereits mit fünf verloren hat und kurz darauf auch noch seine ältere Schwester, die vielleicht so etwas wie eine zweite Mutter war.

Tracey Emin und meine Mutter sind am selben Tag geboren, am dritten Juli, aber Tracey Emin lebt noch, ich folge ihr auf Instagram. Ich sehe sie dort, fast jeden Tag. Tracey, die malt, Tracey, die im Meer schwimmt, Tracy, die mit ihrer Krebserkrankung kämpft, Tracey, die so viel verloren hat.

Über Jahrzehnte hat Munch wieder und wieder denselben stummen Schrei gemalt und gedruckt, wieder und wieder, den Kopf, den aufgerissenen Mund, umschlossen von Meer und Himmel, die in brennenden Spulen liegen. Eine Panikattacke ging diesem Motiv voraus, und Tracey Emin hat dort, auf demselben Steg, auf dem diese Angst vor der Welt über ihn hereinbrach, ihre Arbeit gefilmt. Ihr Körper umgeben von weiß glänzendem Wasser, ihr Schrei über der Nordsee. Dieser Schrei ist eine Hand, die sich nach ihm ausstreckt, nach Munch, und versucht, ihn zu greifen, durch Raum und Zeit, ihn und alle, die etwas verloren haben.

Ich nehme das Handtuch, das ein Windstoß von der Liege auf den Boden geschoben hat, wickle mich darin ein und gehe zum Fahrstuhl. In der Glasfassade des Nachbarhotels spiegeln sich die schwarzen Wolken, und ich sehe darin eine weiße Figur. Eine Frau, auf einem Balkon in einem weißen Hemd und einem großen weißen Sonnenhut. Sie sieht zu mir herunter, und ich hebe grüßend die Hand.

2

Als ich geduscht aus dem Badezimmer komme, ist von draußen Tumult zu hören, mehrere Stimmen rufen durcheinander. Von meinem Zimmerfenster aus kann ich über die Düne blicken, und ich sehe, wie das Auto der Strandwache davonfährt, während eine kleine Gruppe Surfer ratlos zurückbleibt. Ihre Bretter liegen über den Strand verteilt, der Rettungsschwimmer mit dem Megafon steht etwas abseits von ihnen. Neben ihm ist der nasse Sand in Löcher und Fußabdrücke gebrochen, als hätte dort ein Handgemenge stattgefunden. Sein weißes Cape ist jetzt schmutzig und nass, und er hat eine Hand erhoben, wiederholt wieder und wieder »tout est okay« in das Megafon. »Tout est okay.«

Ich muss an ein Gedicht von Sophie Robinson denken, »Edward Scissorhands«:

dadbod jesus bloated on a beach

dadbod jesus watching over me,

und ich wünschte, es gäbe eine Form der Spiritualität in meinem Leben, eine Vorstellung von der Mutter im Paradies, was immer das für sie wäre. Ich wünschte, jemand würde sie dort begrüßen, in einem Nest aus perfekten weißen Wolken und Licht. Ich wünschte, jemand würde ihrer Vorsicht, ihrer Zurückhaltung mit Wärme begegnen und ihr sagen, jetzt ist es vorbei, tout est okay. Ab jetzt ist alles leicht für dich.

Alles wäre immer einfacher gewesen, wenn wir an etwas geglaubt hätten. An eine Schicksalsschreibung, irgendetwas, das aus unserem Leben mehr gemacht hätte. Aber es gab nichts dergleichen in uns. Kein Gottvertrauen und keine Rituale außer den Abläufen des Fernsehprogramms. Ich wünschte, ich hätte eine Praxis für ihren Tod, ich wünschte, es gäbe andere hier, die sie vermissen, die mit mir sitzen, mit mir essen, sich mit mir erinnern. Aber ich bin allein, wie Edward, der alles zerschnitt, was er liebte. Ein Loch in der Brust, wie eine durchschlagene Wand. Monsterscham.

Kein dadbod jesus, der mich zudeckt, der meine Scherenhände hält. Nur ein Vater, den ich kaum kenne. Es gibt niemanden außer mir, der die Mutter geliebt hat.

Die Wasseroberfläche ist jetzt leer, alle Surfer sind den Rufen an Land gefolgt. Die Wellen bilden tiefe Gräben, der Regen zieht wie eine Wand auf das Land zu. Was immer da unten am Strand passiert ist, es ist der zweite Umbruch in kurzer Zeit, den ich verpasst habe.

Ich beobachte, wie die Surfer das nasse Neopren von ihren Körpern pellen, und entdecke dabei eine Gruppe von drei Menschen, die weit vorn im nassen Sand kauert, in einer völlig anderen Welt. Eine Frau mit ihren zwei Kindern. Während der Strand sich leert, graben sie Löcher, die von schnellen Flutwogen überspült und aufgefüllt werden. Sie graben, graben, graben, und wenn das Wasser kommt, springen sie zurück. Ich höre die Kinder lachen, sie rennen ins schwarze Wasser und wieder hinaus. Sie sehen silbern darin aus, klein und glänzend im Licht.