Sommer ’96: Take That haben sich getrennt, die Welt tanzt Macarena, und Bundestrainer Berti Vogts kämpft bei der EM ums berufliche Überleben. Und auch in der schleswig-holsteinischen Provinz gibt es Probleme: Tobis Eltern verabschieden sich in einen zweiwöchigen Urlaub. Vierzehn Tage, in denen Tobi zum ersten Mal mit Lisa schlafen möchte, die Führerscheinprüfung ansteht und er sich um Papas Seepferdchen kümmern soll. Nichts davon wird klappen. Überhaupt läuft wenig so, wie er es will: Lisa macht Schluss, ihr bester Freund Georg nervt, und Tobis unkontrollierbarer Freund Scholzen zieht bei ihm ein.
Als Georg eine Nachricht von seiner tot geglaubten Mutter aus London erhält, kapern die vier kurz entschlossen ihr Fahrschulauto, um von der Ostsee über die Niederlande nach England zu reisen. Ohne Geld, ohne Plan, aber dafür mit den Seepferdchen im Kofferraum.
PROLOG
DONNERSTAG, 27. JUNI 1996 18:03 UHR
Tobi war kein Idiot. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass es auf ihrem Weg Probleme geben würde. Er war nicht mal davon ausgegangen, es auch nur in die Nähe ihres Ziels zu schaffen. Als die Polizei im Rückspiegel auftauchte, war er trotzdem baff. Denn sie waren noch gar nicht losgefahren. Der Golf III, Sonderedition Bon Jovi, stand unverändert an der Zapfsäule der alten Nordoel-Tankstelle. Hatten die anderen etwas mitbekommen? Lisa vielleicht. Schließlich saß sie am Steuer und konnte ebenfalls in einen der Spiegel schauen. Georg dagegen wohl eher nicht. Zum Glück, denn wenn er eine Sache gerade nicht gebrauchen konnte, war das zusätzliche Aufregung. Er lag auf der Rückbank, die Augen bedeckt mit seiner Armbeuge. Er sah beinahe lässig aus, wären da nicht der bebende Brustkorb und das unüberhörbare Schleifen gewesen. Sein Luftholen klang, als zöge jemand in der Ferne Kartons über schmutzigen Betonboden. Auch Tobi hätte ein wenig Entspannung gutgetan. Niemand kontrolliert ein Fahrschulauto, sagte er sich. Logisch. War schließlich klar, dass die Insassen keinen Führerschein hatten. Niemand kontrolliert ein Fahrschulauto, wiederholte er lautlos. Und dieser Satz hätte ihn tatsächlich fast beruhigt, hätte nicht die Stimme im Kopf hinterhergemurmelt: Es sei denn, das Auto ist bereits als gestohlen gemeldet. Tobis Herz pumpte. Es rauschte in den Ohren. Er blickte in den Rückspiegel. Der Streifenwagen stand nun an der Zapfsäule hinter ihnen. Am Steuer saß ein Polizist in kurzärmeligem Hemd, der Beifahrersitz war frei. Warum tankte der Typ nicht einfach? Worauf wartete er? Auf Verstärkung? Um sich abzulenken, kramte Tobi im Handschuhfach. Alles war jetzt besser als die eigenen Gedanken. Er zog eine CD heraus: Bon Jovi, These Days. Das Album war Teil der Sonderausstattung dieses merkwürdigen Autos. Tobi tastete das Handschuhfach bis in die Ecken ab. Er hoffte auf eine zweite CD. Vergeblich. Also schob er seufzend These Days in den Schlitz des Players, bis die CD eingezogen wurde. Musik. Endlich war das Rauschen nicht mehr das Lauteste. Jon Bon Jovi sang ernst und beschwörend. Er gab den Anwalt der Gottverlassenen. Seine Sammelklage mündete im patzig vorgetragenen Chorus: »Hey God, tell me, what the hell is going on?« Gute Frage, dachte Tobi. Auch bei ihnen war einiges schiefgelaufen. Seit der Party am Samstag eigentlich alles. »Wo bleibt denn Scholzen?«, hustete Georg in seinen Ärmel. Und auch wenn Tobi sich seit Minuten die gleiche Frage stellte, antwortete er so selbstverständlich wie möglich: »Er sollte ja auch noch Wasser mitbringen.« »Ja und?«, raunte Georg. »Da muss man sich ja erst mal entscheiden. Es gibt verschiedene Sorten. Mit oder ohne Kohlensäure. Und Medium, das gibts auch.« »Wenn der in zwei Minuten nicht da ist, fahren wir«, sagte Lisa, ohne Tobi anzusehen. »Wir müssen auf Scholzen warten«, gab Tobi dennoch zu bedenken. »Er hat das Asthmaspray.« Georg richtete sich ächzend auf. »Ich geh ihn holen.« Keine gute Idee, dachte Tobi. Draußen würde Georg den Polizisten sehen. Und der Polizist ihn. Und dann würde Georg endgültig kollabieren vor Aufregung. Georg musste im Wagen bleiben. Tobi drehte sich zu ihm, aber eigentlich nur, um im Auge zu behalten, was hinter ihnen passierte. Der Polizist stand jetzt neben seinem Wagen. Er kratzte sich da, wo das Hemd am meisten spannte, und starrte auf die Anzeige der Zapfsäule. Tobi wollte das Gespräch am Laufen halten. Aber wie? Er und Georg hatten noch nie über das Notwendige hinaus miteinander geredet. »Vielleicht bringt Scholzen ja Fachingen mit. Könnte dir guttun. Ist eine staatlich anerkannte Heilquelle.« Tobi versuchte Begeisterung mitklingen zu lassen. Zumindest Lisa erreichte er damit nicht. Sie sah ihn nun doch an, vielleicht zum ersten Mal an diesem Tag. »Wie lange willst du noch über Wasser reden?«, fragte sie genervt. »Ich würde dann währenddessen Musik hören.« Georg griff an den Türöffner. »Warte doch mal«, sagte Tobi hastig. »Wusstest du, dass Fachingen weder normaler Sprudel ist noch Medium? Das ist dazwischen, also was den Perlfaktor angeht.« Während Tobi darüber nachdachte, ob es den Begriff Perlfaktor überhaupt gab, öffnete Georg die Tür. »Moment noch. Was ist denn dein Lieblingswasser?« Tobi fand einfach kein besseres Thema. Lisa stieß Luft aus, lauter, als Georg einatmete. Sie hielt ihren Finger auf die Lautstärkeleiste des CD-Players. Volume-Stufe 10 … 11 … 12. »Nicht so laut«, schimpfte Georg gegen die Musik an. Der Polizist schaute rüber. Tobi drehte sich nach vorne, zog Lisas Finger weg und tippte hektisch auf Minus. Dabei schaute er über die Schulter zu Georg. Blickkontakt halten. Solange Georg ihn ansah, konnte er nicht den Polizeiwagen sehen. »Wir müssen ja auch nicht über Wasser reden«, gab sich Tobi einsichtig. »Was trinkst du denn sonst so?« Noch bevor Georg antwortete, stellte Lisa die Musik wieder lauter. Tobi hielt dagegen. Lisa drückte auf Plus, er auf Minus, Volume-Patt. Die Musik dröhnte bei 13. »Eistee«, rief Georg. »Cool«, log Tobi. »Zitrone oder Pfirsich?« Lisa zog Tobis Finger von der Leiste. Sie hämmerte immer weiter auf Plus. »BUT HEY HEY HEY HEY GOD? DO YOU EVER THINK ABOUT ME?« Es klopfte. Ans rechte Seitenfenster. Tobi schaute nicht hin. Er wusste ja, wer da stand. Niemand kontrollierte ein Fahrschulauto, es sei denn, man stellte sich außergewöhnlich dämlich an. Tobi drückte die Musik leise. Es klopfte noch mal. Jetzt hatten es auch die anderen gehört. Der Polizist stand so nah, dass das Seitenfenster von seinem Bauch ausgefüllt wurde. Georg sank wortlos in sich zusammen. Als ließe jemand die Luft raus. Passend dazu entwich seinen Bronchien ein leises Pfeifen. Lisa dagegen hatte das Atmen eingestellt. Ihr Blick streifte Tobi und den Polizistenbauch und flatterte weiter. »Was sollen wir machen?«, flüsterte sie. Der Polizist schaute durchs Fenster und klopfte energischer. Lisa reagierte nicht, Georg auch nicht, also handelte Tobi. Er ließ die Scheibe herunter. »Guten Tag.« Aus Tobis Mund klang es wie eine Frage, mit deren Bestätigung nicht zu rechnen war. Auch der Polizist grüßte und genoss die anschließende Pause. Dann legte er nach: »Leute, ich war auch mal jung. Aber im Straßenverkehr die Musik immer nur so laut, dass sie die anderen nicht stört und einen selbst nicht ablenkt.« »Wir dachten, weil wir ja gerade stehen und –« »Wo ist er denn, euer Fahrlehrer?«, wurde Tobi unterbrochen. Er schwieg. Lisa sprang ein: »Bezahlen.« »Ach so, ja klar.« Der Polizist nickte zufrieden. Tobi blickte zum Tankstellenhäuschen. Sosehr er sich fragte, was zur Hölle Scholzen eigentlich da drinnen machte, so sehr hoffte er, dass es noch ein wenig dauern würde. Scholzen hätte an keinem Tag einen glaubwürdigen Fahrlehrer abgegeben, aber an diesem Donnerstagabend erst recht nicht. Vor einer halben Stunde hatte er sich zwei Pillen eingeworfen. Und niemand, nicht mal er, wusste, wie die Dinger wirken würden. »Moment mal«, sagte der Polizist. Er ging einen Schritt zurück und musterte den Wagen. Dann trat er wieder ans Seitenfenster und ließ seinen Blick das Armaturenbrett entlangwandern. Seine Augen weiteten sich. »Handelt es sich bei diesem Wagen etwa um …«, er stockte, beugte den Oberkörper nach hinten und schaute noch mal prüfend auf den Kotflügel, »… den Golf Bon Jovi?« Tobi nickte mit zusammengepressten Lippen, die alles Nötige ausdrücken sollten: eine Mischung aus Spott und Bedauern für jeden, der mit so einem Modell gesehen wurde. Der Polizist strahlte. »Schönes Teil. Hat der Wirbelkammereinspritzung?« Tobi schaute fragend hinter sich. Wenn irgendjemand mit technischen Details vertraut war, dann Georg. Aber der schwieg. »Woher sollt ihr so etwas auch wissen? Ihr seid ja nur die Fahrschüler«, dachte der Polizist laut. Er lächelte ins Wageninnere. Kollektives Nicken. »Ich warte einfach kurz auf euren Fahrlehrer. Der wirds mir sagen können.« Tobi nickte immer noch, während er mit einem Auge zum Tankstellenshop lugte. Er versuchte, Scholzen hinter den großen Fenstern auszumachen. Aber alles, was er auf den dunklen Scheiben sah, war die Reflexion eines vermeintlich schönen Sommertages: Landstraße, dahinter Felder. Davor ein Golf mit Bügel auf dem Dach und einem Polizisten an der Seite, der offenkundig alle Zeit der Welt hatte. Sie warteten auf einen Lehrer, den es nicht gab, jedenfalls nicht an der Nordoel-Tanke. Tobis Hoffnung schwand. Auch Jon Bon Jovi hatte mittlerweile jede Zuversicht verloren. »This ain’t a love song«, lamentierte er, wenigstens so leise, dass es fast nicht nervte. Im Streifenwagen knackte und rauschte es. In das Rauschen kratzte eine Stimme kurze, energische Sätze. Der Polizist, selbst überrascht, versuchte mit zusammengekniffenen Augen die Funksalven aus der Ferne zu entschlüsseln. Es gelang ihm nicht. »Der Dienst ruft. Dann noch viel Spaß, ne?« Er klopfte aufs Dach und ging zurück zu seinem Wagen, wo er sich auf den Fahrersitz plumpsen ließ und mit dem Funkgerät hantierte. »Fahr«, zischte Georg. Er hatte seinen Kopf zwischen die Lehnen der Vordersitze gesteckt. Lisa sortierte ihre Füße an den Pedalen. Als sie die Hand am Zündschlüssel hatte, öffnete sich die Tür des Tankstellenhäuschens. Eigentlich wurde sie aufgestoßen. »Der Spinner hat ja meine …« Georg stutzte. »Wieso hat der meine Pistole?« Alle drei starrten auf Scholzen. Der rannte in großen Schritten auf sie zu, in der linken Hand eine volle Plastiktüte, in der rechten Georgs Waffe. Er blieb kurz stehen, drehte sich um und schoss auf die Tür, durch die er einen Moment vorher gestolpert war. Im Auto rührte sich niemand. Jeder versuchte das Bild zu verstehen. Dem Polizisten ging es da nicht anders. Er war aufgestanden. Die Ellenbogen aufgestützt zwischen Fahrertür und Autodach, sah er mit offenem Mund, wie Scholzen den Golf erreichte. Der riss die hintere Tür auf und warf sich auf die Rückbank, beziehungsweise auf Georg. Die Tür stand noch immer auf, Scholzens Beine hingen raus, als Lisa den Zündschlüssel drehte und aufs Gas trat. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, schüttelte sich und verstummte. Immerhin war die hintere Tür dabei zugeschlagen. Lisa machte alles noch mal. Der Motor keuchte kurz. Wieder Ruhe. Der Polizist setzte sich schwerfällig in Bewegung. Georg rief Kommandos, langsam kommen lassen, Standgas, dies und das, es half nichts. Im Gegenteil. In immer kürzeren Abständen zerrte Lisa am Zündschlüssel. Hinter ihnen stampfte der Polizist auf sie zu. Dann lief der Motor. Lisa gab viel zu viel Gas, und der Golf hoppelte in Richtung Straße. Der Polizist rannte zurück zu seinem Wagen, während Lisa auf die Landstraße steuerte und dabei fast einen Leitpfosten rasierte. Auf der Rückbank brüllte Georg. Lisa übertönte ihn: »Scholzen!« »Ja?« Scholzen strahlte. Und damit war auch klar, wie die beiden geschluckten Pillen wirkten. Triumphierend schwenkte er die Tüte. »Leute, ich hab Aquarius. Das ist isotonisch.« »Alter, du hast die Nordoel überfallen«, rief Georg. »Aber ihr habt mich da doch reingeschickt. Ihr wisst ja, dass ich keine Kohle habe. Außerdem hab ich noch ne Überraschung!« Blaulicht zuckte in den Rückspiegeln. Der Streifenwagen zog links neben den Golf. Über die Außensprechanlage tönte: »Fahrt rechts ran, sofort!« Lisa schaute stur nach vorne. Auch die anderen reagierten nicht. Wegen eines entgegenkommenden Autos ordnete sich der Polizist hinter dem Golf ein, blieb aber dran. Er berührte fast die Stoßstange. Tobi fand als Letzter seine Sprache wieder, viel zu laut. »Schneller!«, rief er. »Der hat uns doch gleich!« Lisa geriet fast auf die Gegenspur. Ein hupendes Auto zischte vorbei. Sie brüllte zurück: »Du gibst mir keine Kommandos! Oder bist du hier der Fahrlehrer?« Nein, war er nicht. Tobi war genau genommen gar nichts. Nicht in diesem Auto und nicht in Lisas Welt. Aber er saß auf dem Platz des Fahrlehrers. Ihm fielen die Pedale ein, die es in diesem Wagen auch auf seiner Seite gab. Also trat er aufs Gas. Sofort zog der Golf an. Lisa wurde überrascht und versuchte zu bremsen. Sie nahm die rechte Hand vom Steuer und zerrte an Tobis Bein, gleichzeitig zog sie den Wagen nach rechts. Tobi griff ins Steuer. »Guck nach vorne!«, schrillte Georg. Lisa, Tobi und Georg konzentrierten sich auf die Straße. Niemand kümmerte sich um Scholzen. Ein Fehler. Der ließ sein Fenster herunter, steckte den Kopf raus, verschluckte sich am Fahrtwind und rief: »I’m a motherfucking cop killer!« Nachdem alle Adrenalinschleusen geöffnet waren, zirkulierte in Scholzen ein Gemisch, das selbst ihn zu neuen Ufern führte. Er zückte Georgs Pistole und schoss auf den Streifenwagen, der dank Tobis Tempo-Offensive nun etwa zehn Meter hinter ihnen lag. Georg zerrte Scholzen wieder rein. Seine Stimme überschlug sich: »Bist du bescheuert?« Er versuchte, Scholzens Hand vom Pistolengriff zu lösen, Finger für Finger. Ohne Erfolg. Scholzen hatte den Griff fest umklammert. Auf der Rückbank kam es zur Rangelei. Lisa und Tobi schauten nach vorne und hielten den Golf per Arbeitsteilung in der Spur. Hinter ihnen Gebrüll. Dann löste sich der Schuss. Etwas spritzte an Tobis Hinterkopf. Sein Nacken war feucht, seine Haare auch. Er fasste hin und sah auf die Innenfläche seiner Hand: tiefes Rot. Das Rauschen in Tobis Ohren dröhnte jetzt. Irgendwo hinter dem Dröhnen nölte Jon Bon Jovi: »These days are fast, nothing lasts in this graceless age. There ain’t nobody left but us. These days.«
Format:
384 Seiten
ISBN: 978-3-0369-9627-1
Erscheinungsdatum: 14. März 2023
»TV-Comedy-Autor Manuel Butt schafft mit seinem irrwitzigen Ritt das perfekte 90er-Nostalgie-Feeling.«
Coopzeitung
Manuel Butt schreibt seit über zwanzig Jahren Comedy fürs Fernsehen. Er verfasste Drehbücher für die Serie Pastewka, ist seit zehn Jahren Autor der heute show und gewann 2018 als Headwriter der Satire-Show Mann, Sieber! den Deutschen Comedypreis. Zuletzt schrieb er für LOL – Last One Laughing. Manuel Butt lebt in Berlin.