Als Maureen Phelan nachts in ihrer Küche einen Einbrecher überrascht und ihn mit einer Devotionalie erschlägt, ahnt sie nicht, dass sie damit eine Reihe fataler Ereignisse in Gang setzt. Lisa McInerneys Roman ist ein bitterböser Krimi und eine fulminant erzählte literarische Sensation voll beißendem Humor.
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Er ließ den Jungen draußen vor der Tür. Bye und viel Glück auch. Die Rolle lag hinter ihm, von jetzt an hatte er breite Schultern und ein kantiges Kinn, kräftige Arme und setzte sich durch. Er ließ den Jungen hinter sich, der nicht mehr war als ein Haufen geschundener, magerer Knochen. Als Mann, neugeboren, trat er durch die Tür, und der Blick der Fee, die diese Verwandlung bewirkt hatte, brannte leicht auf seiner Haut. Karine D’Arcy hieß sie. Sie war fünfzehn und ein bisschen und seit drei Jahren in seiner Klasse. Außerhalb der Schule war sie immer eins über ihm gewesen, und doch stand sie jetzt da, an einem Montagmittag bei ihm im Flur. Deshalb musste der Junge gehen, was noch von ihm übrig war, was sie nicht schon mit ihren Händen und ihren Küssen zertrümmert hatte. »Bist du sicher, dass dein Dad nicht nach Hause kommt?«, sagte sie. »Wird er nicht«, sagte er, obwohl sein Vater völlig unberechenbar war und nicht nach normalen Maßstäben funktionierte. Heute Morgen hatte er seine Kinder gewarnt, dass er zu tun habe und sie sich selbst was zu essen machen müssten, später käme er dann schon. Böse aufgedreht und, wie sie aus Erfahrung wussten, übel gelaunt. »Und wenn doch?« Er nahm die Hand aus ihrer und legte den Arm um sie. »Ich weiß nicht«, sagte er. Oh, die Wahrheit war hart, so hart. Ungeübte Worte aus einer brandneuen Kehle. Er war fünfzehn, so gerade. Hätte sie ihm die Frage vorher gestellt, bevor sie über die Schwelle getreten waren, hätte er wie üblich die fünfzehnjährige coole Socke markiert, aber mit einem Mal war alles anders, und er wusste plötzlich nicht mehr, wie das ging. »Dann ist es sowieso mein Fehler«, sagte er. »Nicht deiner.« Sie sollten in der Schule sein, und selbst sein Dad würde das wissen. Wenn er jetzt hier reinkäme, wenn, angeschlagen, gerädert, weil er getrunken, gepokert und was zum Teufel sonst noch getan hatte, würde er gleich kapieren, dass sein Sohn gerade schwänzte, und das aus einem klaren Grund. »Für ihn schon«, sagte sie. »Aber wenn er’s meiner Mam und meinem Dad erzählt?« »Macht er nicht.« Das war so sicher wie der Boden unter ihren Füßen. Sein Vater mochte ja vieles sein, aber bestimmt nicht verantwortungsvoll. Oder mutig. Oder rechtschaffen. »Bist du sicher?« »Die einzigen Leute, mit denen mein Dad spricht, leben in diesem Haus«, sagte er. »Sonst will keiner was von ihm wissen.« »Was machen wir jetzt also?« Der Name des tapferen neuen Mannes, dem die bevorstehenden Möglichkeiten so ins Fleisch stachen und auf den Schultern lasteten, war Ryan. Tatsächlich war seine erwachsene Version gar nicht so anders als die linkische Leiche draußen vor der Tür, er hatte die gleichen schwarzen Haare, die gleiche blasse Haut und die gleichen tintenschwarzen Augen. »Wie von bösen Geistern besessen«, hatte zitternd eines der Mädchen, das ihm nahe genug gekommen war, um es beurteilen zu können, gesagt und ihm seine Absicht mitgeteilt, ihm den Dämon aus der Zunge saugen zu wollen. In den letzten paar Monaten war er gewachsen. Zu langsam, zu ruhig, hatte seine Nonna geseufzt, als sie das letzte Mal seine Facebook-Fotos gesehen hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass er nie die eins achtzig erreichen würde. Seine Mutter war seit vier Jahren tot und sein Vater ein Wrack, das ebenso oft auf dem Sofa endete wie im eigenen Bett. Ryan war das älteste Kind des Wracks. Er schlich um seinen Vater herum und machte anderswo Lärm. Da passte was nicht. Natürlich war ein Mann, egal, wie alt er war, berechtigt zu schlafen, wo er mochte, und jedem, der ihn beleidigen zu wollen schien, eins auf die Nase zu geben, jedenfalls machte es das Wrack so: Sein Vater hatte nur heiße, billige Wut in sich und wechselte zwischen Suff und Austrocknungsversuchen in elenden, ewig weit entfernten Entzugskliniken hin und her. Selbst wenn Ryan den Zorn in sich spürte, den der Hohn seiner Lehrer in ihm wachrief oder das, was er von den größeren Jungs abkriegte, wusste er doch um die Leere in deren Aufforderung zu kämpfen. Er suchte nach etwas anderem, das ihn morgens aus dem Bett holte, hätte aber nie gedacht, dass sie das sein könnte. Sie gehörte zu den Mädchen mit den kürzesten Röcken, die vor dem Unterricht das Wort unter den auf der Heizung hockenden Mitschülerinnen führten und so unverschämt wie zuckersüß mit den Lehrern umgingen. Er hätte nie gedacht, dass sie ihn für mehr als einen Schläger halten könnte, obwohl er sie darum gebeten hatte, stumm, ohne den Mund aufzumachen und mit niedergeschlagenem Blick, und das verdammt schon seit Jahren. Vor drei Wochen dann, am Abend seines Geburtstags, hatte sie sich von ihm küssen lassen. Er hatte im Auto eines seiner Freunde gesessen, die älter waren als er, Altersgenossen seines sechzehnjährigen Cousins Joseph, der Ryan gut genug kannte, um nichts auf sein Alter zu geben. Vorm Eingang zur Disco im Gemeindezentrum hatte er sie gesehen, lachend und frierend in einem langen schwarzen Top und weißen Shorts, hatte sich von hinten vorgebeugt und aus dem Beifahrerfenster zu ihr hinübergerufen. Er musste sie nicht mal überreden, zu ihm in den Wagen zu steigen. Was für ein Glück, dass ihr nach einer kleinen Spritztour war. Und ja, sein Herz tat einen Sprung und versuchte ihn glauben zu machen, dass es vielleicht mehr war: Glück und Vertrauen. Sie vertraute ihm. Himmel! Sie mochte ihn. Sie waren schießen gegangen, und es gab ein paar Dosen Bier und ein paar Joints und einen hübschen, kalten Wind, der sie näher an seine Seite brachte. Als er merkte, dass er seine Nerven nicht beruhigen konnte, gestand er sich ein, was er wirklich für sie empfand, und riskierte es, eine Hand unten auf ihren Rücken zu legen. Er zählte bis zwanzig, dreißig oder achtzig, bevor er zu glauben wagte, dass sie sich nicht wegbewegen würde, bevor er ihre Hand nahm, damit seine nicht mehr so zitterte, und endlich, endlich, über die riesige Entfernung von dreißig Zentimetern hinweg, seinen Mund auf ihren brachte und sie küsste. In den Tagen danach hatten sie endlos Neuland erobert und beschlossen, es zu probieren. Sie waren ins Kino gegangen, waren Eis essen gewesen und hinterher durch die Straßen zurück zu ihr gewandert. Hand in Hand. Und aus Furcht, das Fundament für ihre Beziehung könnte zu mustergültig geraten, hatten sie nach ungestörten Orten und dunklen Ecken gesucht, um genau das zu zerbröckeln, seine Hände auf ihrem Körper, den Unterschied zwischen der Haut auf ihrem Bauch und der ihrer Brüste erkundend, seinen Leib gegen ihren gedrückt, damit er spürte, wie sich ihrer seinem vollkommen anpasste. Und jetzt, am Montagmittag bei ihm zu Hause im Flur, antwortete er mit einer Frage. »Was willst du denn machen?« Sie trat ins Wohnzimmer, drehte sich auf einem Fuß und betrachtete alles. Er musste den Kopf gar nicht erst durch die Tür strecken, um zu wissen, dass ihr der Anblick kaum gefiel. Die Unfähigkeit seines Vaters hatte das Haus zu einem Museum der haushälterischen Talente seiner Mutter werden lassen, die mit Durcheinander und unnötigem Kram wie ein Windstoß mit Herbstlaub umgegangen war. »Ich war noch nie bei dir zu Hause«, sagte sie. »Es ist so komisch.« Sie meinte den Umstand, dass sie hier war, nicht das Haus. Wobei sie auch damit nicht wirklich falschgelegen hätte. Es war schräg. Ohne seine Mutter war das Vier-Zimmer-Reihenhaus so höhlenartig, dass er es kaum aushielt. Es erinnerte ihn an Scheiß, an den er nicht erinnert werden wollte, und Abgründe, die nicht da sein sollten. Es war ein Dach über dem Kopf. Eine Feuergefahr, denn manchmal dachte er daran, es mit Benzin zu tränken, ein Streichholz daran zu halten und zuzusehen, wie es den Nachthimmel erhellte. Sie wusste, was Sache war. In einem mutigen Schritt hatte er ihr vor ein paar Tagen seine Lage gestanden, voller Angst, dass sie durchdrehen und ihn verlassen könnte, aber er wollte ihr unbedingt sagen, dass nicht jedes Gerücht über seinen Vater stimmte. Auf der Treppe hinter der Schule, als sie dicht nebeneinander auf dem kalten Beton hockten, hatte er zugegeben, ja, es krachte zwischen ihm und seinem Vater, aber nein, nicht so, wie gehässige Gerüchteköche es weismachen wollten. Er ist ein Idiot, Mädchen, er kann sich gerade so auf den Beinen halten, wenn er voll ist, aber er ist nicht … Er ist … Ich habe die Leute schon so einen Scheiß über ihn reden hören, aber er ist nicht irre, Mädchen. Er ist nur … fuck … ich weiß nicht. Sie war nicht davongelaufen und hatte es auch keinem erzählt. Es hatte ihm richtig was von den Schultern genommen, war gleichzeitig aber auch das Blödeste, was er hatte machen können, denn damit war seine Position ihr zu Füßen festgelegt. Einerseits störte es ihn nicht, weil er wusste, sie war besser als er, superklug und schön wie der Morgen, und jedes Mal, wenn er sie sah, wurde ihm ganz schwindelig, und er spürte, wie das Blut in seinen Adern pulsierte, wie Luft in seine Lunge strömte und ihm das Herz in der Brust schlug. Aber irgendwie pisste es ihn auch an, dass er ihr nicht auf Augenhöhe begegnen konnte. Dass er genauso auf dem Boden herumkroch wie sein Vater, von dem er seine Nutzlosigkeit geerbt hatte. Jetzt war da allerdings keine Wut mehr. Die hatte er draußen bei seinen welkenden Überresten zurückgelassen.
Originaltitel: Glorious Heresies
Aus dem Englischen (UK)
von
Werner Löcher-Lawrence
Format:
11.6 x 18.5 cm, 448 Seiten
ISBN: 978-3-0369-6116-3
Erscheinungsdatum: 06. April 2021
Lisa McInerney, geboren 1981, lebt im irischen Galway. Ihr Debütroman Glorreiche Ketzereien war für den Irish Book Award sowie den Dylan Thomas Award nominiert und wurde mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction und dem Desmond Elliott Prize ausgezeichnet. Für ihren zweiten Roman Blutwunder erhielt Lisa McInerney den Encore Prize.