Vorschläge
Eine Geschichte, die Sie so schnell nicht vergessen werden: über die Frau, die den Maler, Vincent van Gogh, weltberühmt gemacht hat – Jo van Gogh-Bonger. Im neuen Roman Die Entflammten von Simone Meier stehen mit van Goghs Schwägerin Jo und der Kunsthistorikerin Gina zwei Frauen im Mittelpunkt.
Wie die Autorin auf die historisch übersehene Jo van Gogh-Bonger stieß und was die Hauptrollen sowie ihre Motive inspirierte, erzählt Simone Meier in diesem Interview. Scrollen Sie nach unten für aufschlussreiche Hintergrundinformationen zu diesem rauschhaften Roman.
Foto: ©Ayse Yavas 2023
Meine Lebensgefährtin, eine Freundin und ich saßen im Spätherbst oder Frühwinter 2021 um einen Tisch und sprachen über das Merchandising von Künstlern. Vincent van Gogh ist darin ja ein Weltmeister. Es gibt restlos alles, was man bedrucken kann, mit Motiven von Vincent van Gogh, vom Kunstdruck über die Küchenschürze bis zum Brillengestell. Auch in Lego ist er bereits verewigt worden. Und wir fragten uns, wie einer, der zu Lebzeiten kein einziges Bild verkauft hat, der mittellos und geistig verwirrt gestorben ist, plötzlich zu einem der teuersten und beliebtesten Künstler der Welt werden konnte. Ich dachte – wie es im Buch auch meine Kunsthistorikerin Gina tut: Mit etwas Glück steckt eine Frau dahinter.
Am nächsten Tag googelte ich »Who made Vincent van Gogh famous?«. Und stieß auf seine Schwägerin Jo. Ein Artikel in der New York Times über die große Jo van Gogh-Bonger-Biografie von Hans Luijten brachte mich weiter, ich begann, ihre Tagebücher und Briefe zu lesen und merkte: Da besteht trotz der zeitlichen Distanz eine Verbindung zwischen uns. Erstens sehen Fotos von uns beiden in sehr jungen Jahren genau gleich langweilig aus, wir haben ähnlich unfertige Gesichter. Zweitens haben wir zwischen 15 und 30 die gleichen Bücher gelesen, etwa Sturmhöhe von Emily Brontë oder Anna Karenina von Tolstoj, bloß waren die Bücher für mich alte Klassiker, für Jo waren sie modern, manche auch brandneu und allesamt aufregend. Und das triggerte mich, diese Idee, dass alles, was wir heute als Kanon betrachten, einmal jung, frisch und aufregend gewesen war. Dazu gehört natürlich auch die Kunst von Vincent van Gogh. Und ich dachte, okay, wenn ich diesen enorm spannenden Stoff jetzt nicht festhalte und versuche, daraus etwas zu machen, bin ich die dümmste schreibende Person, die jemals gelebt hat.
Nein, die gibt es nicht. Aber was mich bei der Recherche mal wieder beschäftigt hat, war, wie wenig Künstlerinnen es damals gab, beziehungsweise wie wenig sie zählten. Deshalb wird Jo im Laufe des Romans zur Geburtshelferin von Ginas eigener Kreativität. Denn das Buch, das wir lesen, wird von Gina erzählt. Wir erleben Jo durch die Perspektive einer jungen Frau, die sich immer wieder intensiv in Jo hineinversetzt, versucht, in ihre Gedankengänge zu gelangen und mit Jos emotionalem und physischem Erleben der Welt von damals verschmilzt. So wollte ich einen direkteren Draht zu jenen Jahren vor 1900 schaffen, als Jo, Vincent und Theo junge Leute mit jungen Gedanken, Gefühlen und junger, wilder, avantgardistischer Kunst waren. Ich wollte diese Energie in die Gegenwart holen und Gina ist ihre Vermittlerin.
Bei Jo ist es klar: Jo. Ihre eigene Stimme, die es in Tagebüchern, Briefwechseln und Essays zu lesen gibt. Die Bücher, die sie gelesen hat. Die Musik, die sie selbst gespielt hat. Zum Beispiel ein Stück aus Mendelssohns Klavier-Zyklus Lieder ohne Worte. Die Bilder von Vincent van Gogh. Die Briefe, die Theo van Gogh ihr geschrieben hat, Erwähnungen über sie im Briefwechsel zwischen Vincent und Theo – und, und, und. Und natürlich auch Vieles, was ich über die Rolle der Frau in der damaligen Kunstszene gelernt habe. Viele Rückschlüsse auf ihre Person gewann ich auch aus ihren amourösen und familiären Beziehungen. Gina ist eine reine, vorbildfreie Erfindung. Nicht sie war zuerst da, sondern ihr Vater, ein erfolgloser Schriftsteller, der in seinem Leben nur ein einziges Buch geschrieben haben wird. Er ist die Antithese zu Vincent van Gogh. Und da die ganze van Gogh-Saga immer auch ein riesiges Familiendrama ist, fragte ich mich, wie die Familie von Ginas Vater so funktionieren könnte. Daraus entwickelte sich überraschend schnell die Tochter, die trotz ihrer anfänglichen Lethargie zur besseren Schriftstellerin als der Vater wird. Weil sie ihm Gegensatz zu ihm einen richtigen Stoff hat, die Geschichte von Jo.
Ehrlich gesagt? Ich würde mir nie irgendwas von ihm an die Wand hängen oder eine van Gogh-Postkarte verschicken. Van Gogh ist mir zu aufdringlich. Bevor ich mich an die Arbeit machte, hat mich einzig das Phänomen seiner Person/seiner Kunst interessiert, dann habe ich mich etwas in ihn verliebt, als Typ ist er natürlich rasend interessant, total leidenschaftlich. Einerseits die größte egomane Nervensäge, andererseits unglaublich empathisch und rührend. Seine Kunst ist auch heute noch nicht meine, aber ich habe sie verstehen und schätzen gelernt. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie groß der Grad der Befreiung war, die er damals in Gang setzte und wie viele weitere Künstler nur dank ihm überhaupt zu ihrem Ausdruck gefunden haben. Das war schon visionär. Doch, ein Bild mag ich! Die blühenden Kastanienzweige im Kunsthaus Zürich. Die sind für seine Verhältnisse sehr lieblich und fast dezent. Und enorm melancholisch, wenn man sich näher damit beschäftigt.